Innenhofkirschbaum

Aleksandar Nikucić

von Aleksandar Nikucić

Story

Joy hĂ€ngte gerade ihre WĂ€sche auf. Das heißt sie tanzte und sang hauptsĂ€chlich, so wie immer, wenn sie mit Hausarbeit beschĂ€ftigt war. Und aus den GĂ€ngen des Wohnbaus duftete es nach ghanaischer KĂŒche. Ich dribbelte wĂ€hrenddessen im Schatten von verwelkten KirschblĂŒten mit meinem Fußball und genoss die gute Laune, die sie versprĂŒhte. Immer wenn ich in Reichweite war, griff sie nach meinem Arm und schwang mich umher. Manchmal drĂŒckte sie mich fest. Meine Oma beobachtete alles vom Fenster aus, bis es ihr zu viel wurde. Ich soll reinkommen.

“Wieso?”

Ich soll nicht fragen, sondern hereinkommen.

“Aber
”

Zum letzten Mal: “Komm rein!“

Meine Oma fĂŒrchtete sich vor Schwarzen. Das schien Joy aber nicht aus dem Takt zu bringen. Sie tanzte und sang und in den GĂ€ngen des Wohnbaus duftete es weiter nach ghanaischer KĂŒche.

Ich verbrachte die Wochenenden oft bei meinen Großeltern in ihrer Hausbesorgerwohnung. Sie lag direkt am Innenhof mit dem riesigen Kirschbaum. Er war mindestens 15m hoch, höher als der Wohnbau. Nicht jeder konnte sich so glĂŒcklich schĂ€tzen. Im Sommer kletterte ich immer hinauf, um an die sĂŒĂŸesten Kirschen zu kommen. Dann lag ich da im Schatten der Baumkrone und naschte Kirschen, die ich Kern fĂŒr Kern wieder ausspuckte. Bis es meiner Oma zu viel wurde. Ich soll runterkommen.

“Wieso?”

Ich soll nicht fragen, sondern herunterkommen.

An sonnigen Wintertagen tropfte es von den Ästen auf meine Jacke, wenn ich das Brennholz aus dem Gartenhaus holte. Im FrĂŒhling, wenn der Baum blĂŒhte, duftete es und im Herbst, wenn er seine BlĂ€tter abwarf, noch mehr. An einem dicken Ast, der bis in die Mitte des Hofs ragte, hing das ganze Jahr ĂŒber eine große Schaukel. Unter diesem Ast habe ich meine ersten Schritte gemacht.

Im Wohnbau herrschte ein familiĂ€res Miteinander. Es gab keine Geheimnisse. Man ließ einander unweigerlich am Familienleben des anderen teilnehmen. Im Innenhof wurde gespielt und gefeiert und in den GĂ€ngen oft gestritten. Meine Großeltern waren glĂŒcklich als Hausbesorger und ich war es auch.Selbst Joy vermochte diesen Frieden nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Es dauerte nicht lange und Joy brachte auch meine Oma zum Tanzen. Ich werde nicht vergessen, wie sie damals im Schatten des Kirschbaums tanzten.

Doch das ist schon lange her. Schon oft hat er seither seine BlĂ€tter abgeworfen. UnzĂ€hlige Kirschen wurden darunter platt getreten. Neue Bewohner zogen ein und zogen wieder aus. In stĂŒrmischen NĂ€chten saß ich gern am Fenster und beobachtete ihn. Wie eindrucksvoll sich sein dunkler Schatten gegen die Naturgewalt wandte, die ihn aussichtslos zu zĂ€hmen versuchte. Ich fĂŒhlte mich geborgen.

Vielleicht sitzt auch heute ein Junge oben in der Baumkrone und nascht Kirschen, die er Kern fĂŒr Kern wieder ausspuckt, wĂ€hrend ein Kind darunter seine ersten Schritte macht. Ich stehe im Schatten von KirschbaumblĂ€ttern und erinnere mich daran, wie Joy und Oma miteinander tanzten. Ich fĂŒhle mich geborgen.

© Aleksandar Nikucić 2022-11-01

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