Introvertiert

Alexander Heller

von Alexander Heller

Story

“Ich habe nichts anzuziehen”, dass ich diesen Satz jemals sagen würde, wäre mir nie in den Sinn gekommen. Ich stehe vor dem Spiegel und blicke verunsichert hinein. Ich muss mir eingestehen, dass die Kleidung mich nicht verunsichern lässt. Ich werde vielmehr die nächsten Stunden mit Melanie verbringen und Zeit mit meinen Mitmenschen verschafft mir von Anfang bis Ende immer ein Unwohlsein. Zudem hatte ich mit Melanie noch nie wirklich Zeit verbracht, was die Kirsche auf der Sahnetorte war und von Kirschen bekomme ich Bauchweh. Ich bin nicht gemacht für Smalltalk und schlage gerne Gesprächsthemen vor, die bei meinem Gegenüber wiederum Unwohlsein auslösen. Daraufhin entstehen Sekunden des Schweigens, die sich wie Stunden anfühlen. Je mehr ich drüber nachdenke, umso mehr wird mir klar, dass die Kleidung kein Scheitern verursachen wird. Dafür werde ich schon selbst sorgen. Eine Tour durch Heidelberg steht an. Ich freue mich darüber, Heidelberg soll laut Erzählungen sehr schön sein. Meine Freude wird nur durch Melanie getrübt, was mich aber wieder nervt, weil sie mein Hauptgrund ist, warum wir uns überhaupt treffen.

Ich steige in ihr Auto, was mir Entspannung bringt. Immerhin bin ich somit um eine Begrüßungsformel herumgekommen. Ob man die Hand schüttelt oder sich umarmt, das weiß ich nie. Erste Hürde mit Erfolg umschifft. Dann kam es, wie es kommen musste. In den ersten zehn Minuten, in denen man sich über Wetter, Land und Leute unterhalten sollte, bringe ich das Thema “Tod” auf das Tablet. Ein Gesprächsbeginn, wie er in keinem Buche steht. Melanie steigt zu meiner Überraschung darauf ein. Entweder ist sie auch kein Freund von seichtem Smalltalk oder sie ist zu höflich, um mich aus dem fahrenden Auto zu werfen.

In Heidelberg angekommen startet unsere Tour. Wir gehen im flotten Tempo einen Hügel hoch. Die Laufgeschwindigkeit hätte ich gerne gedrosselt, will mir aber nicht die nächste Blöse geben. Während wir immer weiter gehen, merke ich, wie mein Rücken langsam nass wird. Keine fünf Minuten unterwegs und schon der Rücken voller Schweiß. Während Melanie wie ein anmutiges Reh nach oben hüpft, komme ich mir vor wie eine Schildkröte, die einen LKW hinter sich herziehen muss. Die nächsten Stunden wurden nicht besser, was den Höhenunterschied anging. Ich war froh, den Hund dabei zu haben. Bei jeder Schnüffelgelegenheit konnte ich kurz durchatmen. Wahrscheinlich spürte das mein Hund und wurde somit zum perfekten Flügelmann, der mir den nassen Rücken freihielt.

26 Kilometer später sitzen wir wieder im Auto. Auf der Rückfahrt hoffe ich, dass kein Parkplatz vor dem Hotel frei ist. Dann müssen wir auf der Straße halten und auch hier wäre keine Zeit für ein Abschiedsritual, weil alles schnell gehen muss. Mein Glück war mir hold und ich umschiffe auch die letzte Hürde. Ich schleppe mich ins Hotel, in den Aufzug, ins Zimmer und falle ins Bett. Trotz allem hätte ich nichts gegen weitere 26 Kilometer mit Melanie. Bitte nur keine Hügel mehr.

© Alexander Heller 2021-11-01

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