von Lisa Knitt
Wieso überraschte es mich jedes Mal immer wieder neu, dass Holmes wie ein Spürhund, der die lang gesuchte Fährte aufgenommen hatte, aus dem Haus stürzte und ich kaum Schritt halten konnte? Nach all den Jahren der Zusammenarbeit hätte ich an dieses absonderliche Verhalten eigentlich gewöhnt sein müssen. Ich stolperte also, wie in nahezu allen Fällen, hinter Holmes her, unwissend, in welchen Stadtteil oder auch nur in welche Himmelsrichtung es uns diesmal verschlagen würde. Glücklicherweise konnte ich anhand von Holmes’ Instruktionen an den Droschkenfahrer diesmal unser Ziel recht schnell ermitteln. Es ging zum Hafen. Die Fahrt schien unendlich lang zu dauern und Holmes sagte während der gesamten Zeit kein einziges Wort. Die Kutsche hielt endlich abrupt, und Holmes öffnete die Tür. Ich hatte noch nicht einmal beide Füße aus der Droschke gesetzt, da spurtete Holmes erneut los. Ich warf dem Kutscher seinen Lohn, inklusive eines großzügigen Trinkgeldes, zu und hastete hinterher. Holmes blieb vor einer windschiefen Hütte direkt am Kai stehen. Die Sonne schien auf deren dreckige Fenster. So dreckig wie die Fenster waren auch die Männer, die neugierig ihre Hälse nach uns streckten und uns argwöhnisch beäugten. Mit unseren Anzügen und Hüten wirkten wir in der Menge der wettergegerbten, rauen Seemänner geradezu lächerlich. Der Gestank nach Fisch vermischte sich mit den Alkoholfahnen der Seeleute, und zwischendurch erhaschte ich auch den Geruch von billigem Tabak. Was zum Henker wollte Holmes hier? Meine Frage wurde prompt beantwortet, als er an der Hütte klopfte. Sofort wurde die Tür nach außen aufgestoßen, und zu meiner Überraschung öffnete uns eine abgemagerte Frau mit faltigem Gesicht und tiefen Schatten unter den riesigen, stechend blauen Augen. Ihre Kleidung hing wie Fetzen an ihr herab, und sie blickte uns mit einer Mischung aus Desinteresse und Überraschung an.
„Wat wünschen die Herr‘n?“, knurrte sie mit tiefer Stimme.
„Gute Frau, ich hätte gern höflichst…“, begann Holmes, aber die dünne Frau unterbrach ihn augenrollend: „Hör ma‘, Bürschchen. Dit Jefasel kannste dir an dein‘ schnieken Hut stecken, hörste? Dein Jelaber brauch ick hier nisch. Also, wat willste?“ Holmes straffte sich, nahm wortlos eine große Münze aus seiner Manteltasche und hielt sie der Frau hin.
„Mein Freund und ich wollen Ihre Aufzeichnungen sehen. Und zwar jetzt!“
„Na, it jeht doch, Jungchen. Kommt ma‘ rin, ihr zwee süßen!“, sie winkte uns in die stinkende Kabine und schloss scheppernd die Tür hinter uns.
„Und Sie sind sicher, dass Sie alle Namen der Personen besitzen, die an und von Bord aller Schiffe gehen, Miss?“, fragte Holmes, nachdem er die Aufzeichnungen der Frau eine Viertelstunde lang begutachtet hatte. Die faltige Frau errötete ein bisschen ob der Bezeichnung „Miss“.
„Tilly heiß‘ ick. Und ja, wenn ick es doch sach‘, Chefchen!“, antwortete sie Holmes jetzt etwas weniger barsch, „jeder Kerl, ob Matrose oder Küchenjunge, muss auf meiner Liste steh‘n. Wenn meine Jungs ne Kontrolle auf ei‘m Schiff machen und die seh‘n, dat da wer nich‘ einjetragen is‘, dann jibt it richtisch Ärger! Ick hab schon erlebt, dat ne janze Flotte nich‘ auslaufen durfte, weil da Leute an Bord war‘n, die nich‘ auf‘e Liste standen, verstehste?“
© Lisa Knitt 2024-08-19