Fast ehrfürchtig las ich das erste Kapitel, in welchem von der großen Traurigkeit berichtet wird, die alle Menschen in jenem Jahr ergriff und worin ich Jakob Steiner kennenlernte, der einen Strick sucht, um sich daran zu erhängen. Fasziniert verschlang ich jedes Wort, um zu erfahren, was den beabsichtigten Suizid vereiteln würde. Im Laufe der Erzählung begegnete ich unterschiedlichste Persönlichkeiten, die mit manch existentiellen Nöten zu kämpfen hatten. Ich versuchte zu verstehen, dass einander unterstützen Grundpfeiler einer wunderbaren Gemeinschaft sind, lernte unvoreingenommen zuhören. Simmel beschreibt mit Heiterkeit und Leichtigkeit tiefgreifende, besinnliche Ereignisse. Ich tauchte ein in diese fantastische Geschichte von Hoffnung und Zuversicht und der Erkenntnis, nie aufzugeben. Ein unerschütterliches Bekenntnis zu den positiven Werten des Lebens, zu Mut, Vertrauen und Optimismus führte mich durch die Erzählung.
Meine Mutter war damals eines der ersten Mitglieder der Buchgemeinschaft Donauland in unserem beschaulichen Dorf. Im Wohnzimmerschrank ordneten sich Johannes Mario Simmels Werke nahtlos aneinander. Sie meinte, ich sei noch zu jung, um mir eine solche Lektüre zu Gemüte zu führen. Ich las trotzdem verstohlen über Geheimdienste der damaligen Supermächte in Zeiten des kalten Krieges, zitterte bei Brudermorden mit nationalsozialistischem Hintergrund, ohne es wirklich zu verstehen.
Natürlich blieben meine literarischen Heimlichkeiten nicht unbemerkt. Im nächsten Quartal überreichte mir die Donaulandvertreterin persönlich einen Roman von Mario Simmel, den ich mit mütterlicher Erlaubnis lesen durfte. Ich fühlte mich so richtig erwachsen.
Ich war ganz aus dem Häuschen, als ich „Das geheime Brot“ aufschlug und auf einer der ersten Seiten stand: „Für Christa”. Selbstverständlich wusste ich, es handle sich nur um eine simple Namensgleichheit, der Autor widmete es einer anderen. Dennoch entstand eine innige Verbundenheit mit diesen 150 Blättern beschriebenen Papier.
Dieses Buch lotste mich sanft durch meine rebellische Sturm- und Drangphase meiner Jugend und kam seinem pädagogischen Auftrag bestens nach. Die Geschichten führten mich auf den richtigen Weg, ließen mich das Wirkliche vom Scheinbaren unterscheiden. In schwierigen Lebenssituationen nahm es mich wie eine tröstende Freundin in den Arm. Es füllte die unendliche Leere meines Herzens nach Vaters frühem Tod mit dem Wissen, nicht alleine zu sein.
Das geheime Brot wandert seit fünfzig Jahren mit mir. Als treue Mitreisende begleitet es mich auf meinem Lebensweg. Wir zogen gemeinsam von zu Hause aus in die Großstadt, übersiedelten in vier verschiedene Wohnungen. Es fiel bisher keiner meiner periodisch wiederkehrenden Feng Shui Entrümpelungen zum Opfer. Diese Zeilen voll Vertrauen und Optimismus lassen das Qi beständig fließen. Es ist für mich positives Denken in Reinkultur. Wenn ich es zur Hand nehme, begrüßt mich jedes Wort freundlich wie eine gute alte Bekannte. Ich würde es niemals freiwillig weggeben. Simmel hat es nicht nur seiner „Christa“ gewidmet, es wurde auch für mich geschrieben. Es tut meiner Seele gut.
© Christa Weißmayer 2021-10-24