Der Alarm kommt ohne Vorwarnung. Ich schäle mich aus meinem Schlafsack, ziehe meinen Parka über, die Stiefel, die Handschuhe, den Stahlhelm, schnappe mein G-3, laufe durch den Schnee zum Kommandostand und warte bis alle Kameraden unserer Staffel erschienen sind. Der Kompaniechef erteilt uns den Befehl unseren Pershing 1A – Flugkörper startklar zu machen. Jeder von uns weiß, was er zu tun hat. Zusammen mit dem technischen Offizier checke ich sämtliche Aggregate nochmal durch. So oft haben wir das schon trainiert, dass alles Routine ist. Der Feuerleitoffizier sitzt schon in seinem Container und gibt das vom NATO-Hauptquartier durchgegebene Ziel in den Computer ein. Nach ein paar Minuten steht die Pershing-Rakete senkrecht in unserer Stellung irgendwo in der Eifel. Gespenstisch ragt die Spitze mit dem Gefechtskopf in den blauen Morgenhimmel. Wir sind gefechtsbereit und würde jetzt der Befehl zum Abschuss durch den US-Präsidenten erfolgen, wäre dies der Anfang vom Ende der Welt, wie wir sie bis dahin kannten. Im Ernstfall käme aus Brüssel vom NATO-Hauptquartier der Befehl „Feuer frei“ und die Hölle würde losbrechen. Das Schweigen im Stand ist unheimlich und wird nur vom gleichmäßigen Lärm der Dieselgeneratoren untermalt. Unsere Pershing steht unter Strom und zigtausend Pferdestärken würden sie im Ernstfall in acht Minuten in eine ballistische Flugbahn bringen. Der nach dem Abbrennen der Raketenstufen freigesetzte atomare Gefechtskopf wäre dann mit Mach 8, also rund 8.000 km/h, seinem Ziel, vornehmlich russische SS 19-Stellungen in der ehemaligen DDR, entgegen gestürzt und ca. 1.000 Meter darüber detoniert* – mit unvorstellbaren Folgen.
Vom Gefechtsstand schaue ich mir das Szenario an. Ein unheimliches Gefühl breitet sich in mir aus. Meine Nerven und die meiner Kameraden sind zum Zerreißen gespannt. Wir fühlen noch nicht einmal die eisigen Temperaturen, die im Januar 1979 in der Nordeifel herrschen. Wir wissen, dass dies „nur“ eine Übung ist, aber wir wissen auch, dass wir Teil der atomaren Teilhabe innerhalb der NATO sind und im Ernstfall unsere mit atomaren Gefechtsköpfen bestückten Pershings abschießen würden. Wir alle, vom Offizier bis zum Gefreiten, ob Deutscher oder Amerikaner, sind so gedrillt, dass sich keiner dem Befehl entgegenstellen würde. Wir sind ein Team von Soldaten in einem Flugkörpergeschwader der Luftwaffe und müssen unseren Auftrag erfüllen. Der „Kalte Krieg“ erfordert permanente Verteidigungsbereitschaft gegenüber dem Warschauer Pakt. So wurde es uns Tag für Tag eingetrichtert. Befehl ist Befehl. Gestern wie heute und in der Zukunft.
Jahre später, während der Balkankriege in den 1990er Jahren, diskutiere ich mit meinem Vater über seinen Einsatz in Russland und ich frage ihn, woran er dachte, als er den Panzer in der Schlacht bei Kursk in die Luft jagte. Er antwortet: „Ich dachte an meine Freundin zu Hause, die Deine Mutter wurde. Hätte ich den Befehl verweigert, wärst Du nicht geboren worden.“
* https://www.tradgem-fkg1.de/ws-pershing/technik
© Wolfgang-Arnold Müller 2024-02-25