von Anne_Ladgam
Dieser Spruch von der âBerliner Schnauzeâ war einer der vielen SprĂŒche, mit denen uns unser Vati das Leben verbal bunt gemacht hat. Leider habe ich es immer noch nicht geschafft, Berlin zu sehen, aber es gibt „one Storyâ ĂŒber Berlin, nĂ€mlich die von der Hochzeitsreise meiner Eltern im September 1960.
Die Beiden hatten in Wien geheiratet, wo meine Mutter seit dem zehnten Lebensjahr gelebt hatte. Mein Vater erzĂ€hlte immer, er habe nach der Trauung neben seiner frisch angetrauten Ehefrau etwas verloren dagestanden. Alle gratulierten ihr aufs Herzlichste. Sie hatte einen groĂen Bekanntenkreis durch SchĂŒler*innen und Lehrer*innen, war sie doch eine beliebte Lehrerin an der Volksschule am Karlsplatz gewesen. Er fĂŒhlte sich als unbekannter Oberösterreicher, der die liebe Lehrerin âweg heiratetâ, ziemlich unsichtbar.
Das sollte sich bei der Hochzeitsreise aber ins Gegenteil verkehren. Aufgrund geringer finanzieller Mittel beschlossen meine Eltern, eine Arbeitsreise mit der Hochzeitsreise zu verbinden und bei Bekannten meines Vaters zu ĂŒbernachten.
Von diesem Aufenthalt wurde mir nie von DenkmĂ€lern, PrachtstraĂen oder Museen erzĂ€hlt – nein, es gibt nur diese eine Berlin-Geschichte in meinem Geschichten-Reservoir der Anekdoten. Folgendes wurde gerne am Tisch erzĂ€hlt, wenn bei uns Leute zum Essen da waren und aus den mit orangen Blumen verzierten Tellern eine krĂ€ftige GemĂŒsesuppe löffelten:
Die Berliner Gastgeberin hatte zu Tisch gebeten und meinem Vater bereits die Suppe serviert, jedoch völlig ĂŒbersehen, dass seine Liebste vor einem leeren Teller saĂ. Die Angetraute saĂ schweigend an seiner Seite und trank mit gesenktem Blick oft aus dem Wasserglas. In ihrer Generation trat man nicht unbedingt fĂŒr sich selbst ein. Es herrschte eine betretene Stimmung, die Gastgeberin berlinerte wohl eifrig ĂŒber Gott und die Welt und sah den leeren Teller vor der jungen Wienerin nicht. Der frischgebackene Ehemann bewegte kaum seine Lippen, wisperte aber immer wieder:
„Meine Frau hat noch keine Suppe, meine Frau hat noch keine Suppe⊓. Dies war wiederum meiner Noch-nicht-Mutti sehr peinlich, aber sie entkamen dieser Situation nicht. Die Gastgeberin nahm das alles nicht wahr. So aĂ mein Vater seine Suppe und meine Mutter saĂ hungrig daneben. Der Magen knurrte.
Vielleicht hat meine Mutti spĂ€ter gerade durch dieses Erlebnis des Ăbersehen-Werdens eine sehr gastfreundliche Art gehabt. Immer war an unserem KĂŒchentisch Platz genug fĂŒr mitessende Menschen. Als ich erwachsen war, fiel mir erst auf, wie klein der Tisch alleine schon fĂŒr die sechsköpfige Familie gewesen war. Wunderbarerweise bot sich trotzdem immer ausreichend Essen und Sitzgelegenheit. Es war eine kleine Speisung der 5000. ZusĂ€tzlich wurde noch Gemeinschaft geboten und das GefĂŒhl, wahrgenommen und gesehen zu werden.
In Berlin jedoch galt allein fĂŒr meinen Vater der Satz: âJanz Berlin war eene Wolke, nur icke war zu sehÂŽn!“
Es ist der Augenblick, der nÀhrt!
© Anne_Ladgam 2022-01-27