von Jürgen Heimlich
Wenn ich mich jetzt daran mache, eine Geschichte aufzuschreiben, so wird sie anders geformt und erzählt sein als jede andere Geschichte, die auf diesem Planeten erzählt worden ist, erzählt wird und erzählt werden wird. Sie wird aber auch für sich einzigartig sein. Denn wenn ich diese Geschichte gestern, vor drei Jahren, in fünf Minuten oder übermorgen aufzuschreiben gedacht hätte oder sie aufschreiben wollte, ergäben sich andere Wortverbindungen, andere Aussagen, kurzum ein anderes Resultat. Und das ist das Besondere an Geschichten, dass sie immer eine andere Dimension zeigen. Es sind die Dimensionen der Gedanken, der Erinnerungen, der Vorstellungen, der Bilder und der Querverbindungen, die Autorinnen und Autoren in sie hineinlegen.
Wie ist es also mit dieser Geschichte, die wie eine Meta-Geschichte beginnt? Wird sie diese Ebene verlassen und in andere Pfade einbiegen? Ja, das tut sie, und zwar jetzt. Indem ich darauf verweise, worüber ich schreiben könnte, weil ich allein in den letzten Tagen wieder eine Unzahl an Erfahrungen, Beobachtungen und erinnerungswürdigen Momenten gemacht und erlebt habe. So etwa über eine Nebelkrähe, die sich im hohen Gras sonnt, eine Amsel, die auf der Wiese stolzierend ein Liedchen singt, eine Bekannte, die ich gesehen, die mich aber nicht erkannt hat, einen Kellner, der gar kein Kellner war, eine nutzlos gewordene Schutzmaske, die zwischen Gräbern da lag, einen toten Vogel, der mit einer Serviette zugedeckt war, meinen besten Freund, der in einem Lokal einen Sturz gerade noch verhindern konnte, eine Inschrift auf einem Grabstein, die den Menschen als Teil des Universums für immer und ewig beschreibt, eine Unterhaltung über Evangelikale und dass nicht alle Mitglieder dieser Freikirche engstirnig sind, den Film „Der Gott des Gemetzels“ von Roman Polanski, dessen wiederholte Sichtung ich genossen habe, ein neu entdecktes Gedenktafel-Triptychon auf dem Wiener Zentralfriedhof, oder darüber, dass ich den letzten Gedichtband von Günter Kunert, der zwei Tage nach seinem Tod veröffentlicht wurde, überreicht bekam.
Vieles bleibt ausgespart, wenn ich diese Geschichte schreibe. Ich wähle bestimmte Worte, die sich in mir bilden und daraus resultiert eine Geschichte. Doch diese Geschichte sprengt wie jede andere Geschichte den Rahmen, weil sie über etwas hinaus weist, von dem weder ich als Erzähler noch Sie als Leser Bescheid wissen. Wir bewegen uns in unbekannte Gebiete und stranden an einem Ufer, wo üppige Palmen wachsen und Bücherberge davon Zeugnis geben, was alles an Gedanken aufgezeichnet werden kann.
Wenn ich mich nun dem Ende dieser Geschichte nähere, so weiß ich, dass sie anders ist als ich mir gedacht hätte und doch wiederum so, wie sie sein kann. Ich bin verwundert, dass sie sich ergeben hat wie sich das Leben selbst Tag für Tag neu offenbart. Das Leben ist ein Sammelsurium an Geschichten und ich habe nun diesem enormen Gebirge ein weiteres kleines Steinchen hinzugefügt.
© Jürgen Heimlich 2020-06-19