Jene Liebe

Cornelia Hell

von Cornelia Hell

Story

Sandra und ich waren gerade dabei, die letzten Gläser des Tages zu polieren, als sich die Tür meines Lokals “The Librarian” erneut öffnete. “Ich weiß, Sie schließen bald, aber wäre es möglich, noch einen Kaffee zu bekommen?”, seine Stimme kam mir vertraut vor, aber als ich ihn ansah, konnte ich sein Gesicht nicht einordnen. “Natürlich”, ich lächelte, “einen kleinen Espresso?” “Sehr gerne”, er nickte, mein Lächeln erwidernd. Während ich den Kaffee herunterließ, schickte ich Sandra nachhause, da außer der Abrechnung nichts mehr zu erledigen gab. Gleichzeitig spürte ich seine Blicke auf mir ruhen, als ich alle Belege für die Abrechnung ausdruckte. Ich ließ meine Playlist weiterlaufen, als ich mich an den Tisch setzte, um den Tag abzurechnen. Bon Jovi, Never say goodbye – einer meiner All-time-favourites.

“Bist du Corinna Berger?”, die Erwähnung meines Mädchennamens ließ mich aufblicken und nicken. “Harald?” Meine Jugendliebe nickte. Ich lächelte – beinahe zwanzig Jahre waren vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Nachdem ich abgerechnet hatte, saßen wir uns eine Weile schweigend gegenüber, ehe er zu erzählen begann, wie es ihn in die USA verschlagen hatte, von seiner Frau und seiner Arbeit. Alles schien gelaufen zu sein, wie er es sich gewünscht hatte. “War das Leben gut zu dir?”, fragte er irgendwann. Ich nickte lächelnd, erzählte ihm, wie es mir ergangen war, nachdem wir uns aus den Augen verloren hatten.

Erst nach einigen Jahren in Italien, der Türkei und Litauen bin ich kehrte ich wieder zurück, zusammen mit meinem Mann Leonas, einem Litauer. Wir hatten im kleinsten Kreis geheiratet und vor einigen Jahren unser Café eröffnet, welches sich schon wegen seiner ungewöhnlichen Speisekarte einen Namen gemacht hatte.

Harald und ich saßen uns an diesem Abend lange schweigend gegenüber. Es war fast auf den Tag genau dreiundzwanzig Jahre her, dass wir uns zuletzt gesehen hatten. Es gab so viel zu erzählen und keinen passenden Einstieg. Schließlich erzählte er mir von seinen Jahren in Amerika, von seiner Frau und seinem Leben. Als uns die Worte ausgegangen waren, saßen wir uns schweigend, jeder mit einem Glas Whiskey in der Hand, gegenüber. Leonas wartete nicht auf mich, er besuchte seine erkrankte Mutter, ich würde in einigen Tagen nachfliegen.

“Corinna?” “Ja?” “Bist du glücklich?” “Ich denke schon, ich wache jedenfalls immer zufrieden auf. Und du?” “Nein, ich bleibe nur aus Pflichtgefühl da, wo ich bin.” Harald und ich haben uns seit jenem Abend nicht mehr gesehen. Das ist vielleicht auch gut so; zwischen einstigen Liebenden wird leicht Staub aufgewirbelt.

© Cornelia Hell 2025-04-28

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Romane & Erzählungen
Stimmung
Emotional
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