Lene konnte mir auch keine brauchbare Erklärung für das Sprechen des Baumes liefern. Also machte mich am nächsten Tag auf zu Jeremias Kreuz, der vor etwa einer Woche ein Gespräch mit der seltsamen Pflanze geführt hatte.
Wir trafen uns im Universitätscafé, wo der breitschultrige Jeremias bereits an einem Soda nippte und in einem Magazin für Erwachsene las. Ich räusperte mich laut, um auf mich aufmerksam zu machen und setzte mich ihm gegenüber. Jeremias legte das Magazin beiseite und fragte mich nach dem Grund unserer Verabredung. Ich erzählte ihm also, dass ich nun schon seit längerem daran arbeitete, das Geheimnis des sprechenden Baumes zu enthüllen, und bat ihn um seine Geschichte.
Und er erzählte …
Seit ich in die Pubertät gekommen war, hatte ich Probleme damit, den Anforderungen meines Vaters gerecht zu werden – die Partys, die ich besuchte, waren zu laut; die Noten, die ich schrieb, zu schlecht; die Karriere, die ich anstrebte, als zu brotlos. Als ich endlich auszog, um mein Studium zu beginnen, verebbte langsam unser Kontakt. Es war generell schwierig zwischen uns gewesen, da meine Mutter bei meiner Geburt gestorben war und ich daher immer das Gefühl hatte, dass er mir dafür die Schuld gab.
Als ich von dem magischen Baum hörte, der angeblich sprechen konnte, überlegte ich lange, doch eines Abends nahm ich all meinen Mut zusammen und ging in den Park. Ich stellte mich vor den Baum und erzählte ihm von dem Gedichtband, den ich veröffentlicht hatte und von der ausgebliebenen Reaktion meines Vaters. Da erklang plötzlich eine Stimme: “Hast du ihn denn nach seiner Meinung dazu gefragt?” “Nein”, antwortete ich der Eiche, “Ich spreche fast nie mit ihm.” “Aber wenn du nie mit ihm sprichst, wie willst du wissen, was er von dir denkt?” , fragte sie. “Wo die Kommunikation fehlt, ist es schwer, Beziehungen aufrechtzuerhalten.” Ich wollte schon wiedersprechen, doch da eröffnete sich mir plötzlich der tiefere Sinn der Worte des Baumes. Hastig bedankte ich mich und sprang in die nächste Straßenbahn, mit der ich an den Stadtrand fuhr.
Wenig später stand ich mit klopfendem Herzen vor meinem Elternhaus und drückte die Klingel. Als mein Vater öffnete, rutschte mir das Herz in die Hosentasche. Doch er reagierte völlig anders als ich erwartet hatte. “Jeremias!”, rief er erfreut, “Schön, dich wiedereinmal zu sehen. Komm rein, ich habe Kuchen da.” Ich trat ein und setzte mich an den Esstisch, während mein Vater in der Küche werkte. Mein Blick fiel auf das Bücherregal, wo ich einen Gedichtband erspähte, der mir sehr bekannt vorkam. “Du hast meinen Gedichtband gekauft, Papa?”, fragte ich erstaunt. Er legte den Teller mit Kuchen ab und lächelte. “Aber ich dachte, du findest das Dichten nicht gut”, sagte ich erstaunt. “Ich fand es riskant”, erwiderte er, “Aber dass du es geschafft hast, erfüllt mich mit Stolz.” Ich starrte ihn fassungslos an. “Du bist mein Sohn, ich bin immer stolz auf dich”, erklärte er und umarmte mich. Ich lächelte erleichtert.
© Paula Würtenberger 2021-05-25