Johann Wolfgang von Goethe und ich

Hannes Stuber

von Hannes Stuber

Story

[1954] Meine Mutter hatte mich, ihr erstes Kind, Wolfgang nennen wollen. Mein Vater hieß Johann. Er musste seinen ersten Sohn natürlich nach sich benennen. Das hatte so zu sein, in Zeiten des Patriarchats. Dass ich Wolfgang als zweiten Vornamen bekommen sollte, lehnte er ab. In den Fünfzigerjahren galt so etwas in der Provinz als verpönt. Sowas machten höchstens die feinen Leute aus Wien.

Ich las viel und schrieb lange Aufsätze für die Volksschule. Meine erste Geschichte schrieb ich mit neun, im Sommer in ein Schulheft, eine Geschichte, an die ich mich nicht mehr erinnern kann. Meine Mutter zeigte das Heft stolz der Nachbarin. War es Zufall, dass auch Alexander Solschenizyn, Thomas Mann und Paul Auster mit neun Jahren zu schreiben begannen? Da meine Eltern dem Arbeitermilieu entstammten, hatten sie von Belletristik oder Kultur keinen Schimmer. Der Vater war Lastwagenfahrer, er las nie. Die Mutter war im Haushalt, bis der Vater uns verließ. Danach arbeitete sie im Akkord für Kapsch. Zum Lesen hatten ich und meine beiden Brüder einige Kinderbücher, Märchen, Bubenromane sowie die Kinderbücher der Mutter und einige Landser-Hefte des Vaters, in denen es um Krieg, Tod und Maschinengewehre ging.

Wie alle anderen pubertierenden Kinder des Dorfes wurde auch ich ins Haus des neuen Pfarrers eingeladen, um dort Tischtennis zu spielen. Es war der einzige Tisch des Dorfes. Der Neue tat viel für die Jugend. Mich nannte er nicht Hansi wie meine Eltern, sondern Hannes, vermutlich in Anlehnung an den Apostel Johannes. Als ich später in Wien zur Schule ging, blieb ich bei diesem Rufnamen. Er klang nicht so altbacken.

Die zweite Geschichte verfasste ich mit fünfzehn, bereits auf der Schreibmaschine. Sie hieß „Der Steinzeitplanet“ und hatte fünfzehn Seiten. Irgendwann warf ich sie weg. Der dystopische Text handelte von der Landung der Menschen auf einem fremden Planeten, dessen Bevölkerung durch einen Atomkrieg in die Steinzeit zurück gebombt worden war.

Die dritte Geschichte hieß „Eine Woche in Paris“ und hatte sechsunddreißig Seiten, getippt mit neunzehn und für Deutsch in der Maturaschule Hörlgasse. Dass ich im Unterricht daraus vorlesen musste, behagte mir nicht. Eine Mitschülerin war so begeistert, dass sie mich bat, das Manuskript ausleihen zu dürfen. Als ich es zurückhaben wollte, hatte ihre Mutter das Unikat im Altpapier entsorgt. Die Geschichte handelte von einer Reise nach Paris per Anhalter, mit einem Schulfreund. Es waren Clochard-Tage am Spitz bei der Pont Neuf, mit Schlapphut, Baguettes und Rotwein. An diesem Ort, wo man den letzten Templergroßmeister verbrannt hatte, übernachteten wir in Schlafsäcken, trotz gelegentlicher Probleme mit der Polizei.

Irgendwann in den Achtzigerjahren las ich eine Biographie Goethes und erfuhr, dass er an meinem Geburtstag ebenfalls den seinen hatte. Dass ich Johann Wolfgang geheißen hätte, wäre mein Vater nicht so borniert gewesen, und dass ich zufällig an Johann Wolfgang von Goethes Geburtstag geboren war, ohne dass die Eltern eine Ahnung davon gehabt hatten, fand ich irgendwie magisch.

© Hannes Stuber 2021-10-07