Judith – 1

Günther Stark

von Günther Stark

Story

(In ‚Holofernes‘ belagert der assyrische Feldherr, General des Königs Nebukadnezar, die jüdische Stadt Betulia. Da es an Wasser fehlt, sind die Einwohner kurz davor, sich zu ergeben. Wenn Betulia fällt, werden die Assyrer alle Männer gnadenlos töten, die Frauen vergewaltigen und die Stadt dem Erdboden gleichmachen. Das jüdische Volk ist dann ein für allemal vernichtet und von der Erdoberfläche vertilgt.

In dieser verzweifelten Lage fasst Judith, die Tochter Meraris und junge Witwe des Manasse, eine Frau von erheblichem Reiz, einen tollkühnen Plan, um ihr Volk und Vaterland zu retten. Judith ist die schönste und gottesfürchtigste Frau ganz Judäas.

„Herr, ein hebräisch Weib“, wird sie ihm von einem Hauptmann gemeldet, „das wir auf dem Berg aufgegriffen haben, steht vor der Tür.“ „Was für eine Art Weib?“ Eine Frage, die der Hauptmann von seinem Feldherrn schon gewohnt und über deren Sinn er sich sofort im Klaren ist. Der Kommandant will wissen, ob sie hübsch und wert genug ist, überhaupt zu ihm vorgelassen zu werden.

Er antwortet aber gerade so, wie es seinem wahren Eindruck entspricht: „Herr, jeder Augenblick, dass du sie nicht siehst“, sagt er mit belegter und stockender Stimme, „ist ein verlorener. Wär‘ sie nicht so schön, ich hätte sie nicht zu dir geführt.“ Schon dieses belegte Stocken in der Stimme berührt den General auf eigene Weise und weckt seine Neugier auf die Frau.

Judith tritt, begleitet von Mirza, herein, erblickt den hünenhaften Assyrer, ist zunächst etwas verwirrt, fängt sich aber schnell, geht auf ihn zu und fällt ihm zu Füßen: „Du bist der, den ich suche“, sagt sie, „du bist Holofernes.“ „Ein Volk, das solche Weiber hat“, hört sie einen der beistehenden Hauptleute über ihr flüstern, „ist nicht zu verachten.“ „Man sollt‘ es allein der Weiber wegen bekriegen“, antwortet ein anderer im selben Ton. Und der General, in ihre Betrachtung versunken, sagt zu sich selbst: „Ist’s einem nicht, solange man sie anschaut, als ob man ein köstlich Bad nähme? Man wird das, was man sieht!“

Der Hauptmann hat nicht übertrieben. Wie hat er all die Augenblicke seines Lebens verlieren können, in denen er sie nicht sah? Dieses Weib ist schöner als alles, was er unter assyrischer oder vorderasiatischer Sonne, ja, unter der Sonne überhaupt je sah. Schöner als alle die wohlgeborenen Töchter, die ihm von den Gesandten der unterjochten Völker regelmäßig, wie dem kretischen Minotaurus, zur Liebe zugeführt wurden.

Er muss sie besitzen, und zwar noch in dieser Nacht muss er sie besitzen, noch in der nächsten Stunde wird er sie besitzen, wie noch keine vor ihr von ihm besessen wurde, noch wie irgendeine je von einem Mann besessen wurde, so wahr er ein Mann ist!

„Wie heißt du?“, findet er die Sprache wieder. – „Judith“, sagt sie mit einer Stimme so süß wie der Wein seiner Heimat. – „Fürchte dich nicht, Judith“, antwortet er trunken, „du gefällst mir, wie mir noch keine gefiel.“ Er weiß aus Erfahrung, wie man mit Frauen redet.

(Weiter mit ‚Judith – 2‘.)

© Günther Stark 2021-02-18

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