Judith IV

Leonie Rauth

von Leonie Rauth

Story

Mama tickt völlig aus, aber ich bekomme das alles gar nicht richtig mit. In diesem Pool bin ich wie in einer anderen Welt. Die Sonne scheint auf das Wasser und es glitzert so schön. Es ist sehr kalt, aber das ist mir total egal. Ebenso stört es mich nicht, dass ich noch mein Kleid trage. Die Schuhe habe ich bereits von den Füßen gekickt. Ich bin frei. Es gibt nur das Wasser und mich…. und mein inneres Kind?! Mein inneres Kind sitzt am Beckenrand. Ich erkenne die kleine Judith an den dunklen Augen, aus denen heraus sie mich anstarrt. In diesen Augen ist kein Leben. Da ist nichts, nur ein leerer, starrer Blick. Ich starre hasserfüllt zurück. Ich kann die kleine Judith nicht leiden. Sie hat mir mein ganzes Leben versaut! Wegen ihrer Naivität habe ich mich damals dazu verleiten lassen, mit dem Jüngsten vom Hartmann zu schlafen. Genau diese Naivität hat mich auch heute dazu geführt, zu glauben, dass alles gut wäre. Dass dieser Tag perfekter nicht sein könnte. Dass Rolfi mir eine zweite Chance gibt. Aber all das ist nicht wahr. Mein inneres Kind ist eine Lügnerin! Und dafür wird es büßen müssen! Die kleine Judith muss endgültig aus meinem Leben verbannt werden, sodass ich auch innerlich endlich die starke und selbstbewusste Frau werde, die ich äußerlich längst bin.

Also packe ich die kleine Judith an ihren Beinen, die ins Wasser baumeln und ziehe sie nach unten zu mir. Plötzlich halte ich inne. Etwas hat mich irritiert. Die kleine Judith lacht. Dieses Lachen heißt so viel wie: „Du wirst mich nicht los! Du wirst mich niemals los.“ Aber da hat sie nicht mit mir gerechnet! Ich stürze mich mit ganzer Kraft auf mein inneres Kind und drücke seinen Kopf unter Wasser. Die kleine Judith strampelt wild mit den Beinen rum. Doch ich habe sie fest unter Kontrolle! Irgendwann hört sie auf, um sich zu treten. Ich starre sie an und sie starrt mit leerem Blick zurück. In ihren Augen wohnt der Tod. Das letzte Stückchen Leben ist aus der kleinen Judith gewichen.

Ich spüre die Perlenkette an meinem Hals und denke an meinen Rolfi. Er wird bestimmt sehr stolz auf mich sein, wenn ihm klar wird, dass ich mein inneres Kind getötet habe. Wenn er merkt wie erwachsen ich nun bin, wird er Verena verlassen und alles wird wieder so wie früher.

„Anni!“, ruft eine Mädchenstimme da, doch ich bin untergetaucht und unter Wasser hört es sich schlecht.

© Leonie Rauth 2023-07-29

Genres
Romane & Erzählungen