von Bernhard Fellner
Still ruhte er in seinem Rahmen. Alles um ihn herum war blau. Ein blauer Mantel mit vielen Knöpfen, ein hellblauer Himmel als Hintergrund und dunkelblaue Fensterleisten. Ich sah ihn lange an. Seine Schönheit hatte etwas sehr Anziehendes. Seine Ausgewogenheit etwas Beruhigendes. Viel Fragendes lag in seinem Blick. Und doch schien er mehr zu wissen als ich. Wenn nicht diese Unnahbarkeit gewesen wäre…
Plötzlich stieg er aus seinem Rahmen heraus und setzte sich zu mir. Lange saßen wir schweigend da und blickten uns erstaunt an. “Wer bist du?”, fragte ich ihn. “Ich bin Lorenzo, ein florentinischer Edelmann!”, antwortete er. “Ich bin fünfhundert Jahre alt!” “Das Alter sieht man dir nicht an!”, wandte ich ein. “Ich hätte dir siebzehn oder achtzehn Jahre gegeben!” Er lächelte: “So ist das, wenn man auf einer Leinwand festgehalten wird!” “Warum schaust du so ernst und nachdenklich?” “Der Meister, der mich malte, hat gesagt, ich dürfe nicht das Gesicht verziehen!” “Du hast ein schönes Gesicht!” Er errötete ganz leicht und sagte: “Danke! – Schau, was ich dir mitgebracht habe!“ Er reichte mir ein kleines Medaillon – eigentlich ein gerahmtes, kleines Bild. Darauf war ein alter Priester oder ein Philosoph zu sehen. “Was bedeutet es?”, fragte ich ihn. “Einerseits ist es eine Erinnerung daran, dass ich auch einmal so aussehen werde im Alter. Die Jugend und ihre Schönheit sind vergänglich!” – “Und andrerseits dokumentiere ich damit meine Ehrfurcht vor Religion und Philosophie!”
Wieder sahen wir uns schweigend an. Vieles lag in seinem Blick: eine gewisse Magie, Scheu und doch Selbstbewusstsein. Etwas Fragiles. “Wie ist die Welt heute so – immerhin war ich fünfhundert Jahre in diesem Bild geborgen. Ist sie anders als damals?” “Anders und auch wieder nicht… lauter, größer, komplizierter…”
Er klammerte sich an sein Medaillon. “Ist sie gefährlich?”, fragte er und da bemerkte ich einen Schimmer von Angst in seinen Augen. “Es sind ganz andere Gefahren!”, antwortete ich. “Ich weiß nicht, ob du sie verstehen könntest und ihnen gewachsen wärest!”
“Was ist das Schöne in der heutigen Welt?” “Es ist das Gleiche wie vor fünfhundert Jahren. Du hast es in deinem Gesicht, deinem Blick. Es hat etwas mit Würde zu tun, mit Geradlinigkeit und Freude.”
Er schien zu überlegen. Dann sah er mir noch einmal gebannt in die Augen, machte kehrt und verschwand wieder in seinem Bilderrahmen. Nur die Finger der linken Hand ragten als Verbindung zur Gegenwart ein bisschen heraus. Das wunderbare Blau umschloss ihn wie ein schützender Mantel. Fest blickte er aus dem Bild heraus und dachte wohl über seinen seltsamen Ausflug nach…
… ein Gemälde des italienischen Renaissance-Meisters Sandro Botticelli ist am 28.1. 2021 für den Rekordpreis von 92 Millionen Dollar versteigert worden. Das ist der höchste jemals für ein Werk des Malers gezahlte Preis, wie das Auktionshaus Sotheby’s in New York mitteilte. Das Porträt „Junger Mann mit Medaillon“ entstand rund um das Jahr 1480.
© Bernhard Fellner 2021-01-29