von Sonja M. Winkler
Wenn man bedenkt, dass im Laufe meiner Lehrtätigkeit an der Uni ca. 2000 Studierende (ich hab’s im Kopf überschlagen) durch meine Hände gingen (unglaublich, wenn man das wörtlich nähme), ist es durchaus verwunderlich, dass ich mich an ihn erinnere. Denn es sind wenige, deren Namen mir heute, nach so vielen Jahren, noch etwas sagen. Noch weniger sind es, an deren Gesichter ich mich erinnere.
Im ersten Lockdown räumte ich mein Kellerabteil auf. Ich durchforstete die Ringmappen mit den Vorbereitungen für die Lehrveranstaltungen, in meinen Anfängen noch handgeschrieben. Da fielen mir auch Anwesenheitslisten in die Hände, samt Notizen zu Leistungen und Noten der Studenten. Auf einer Liste, vergilbt und am Rand eingerissen, fand ich seinen Namen, daneben hatte ich sein Zweitfach notiert: Geschichte.
Letzte Woche wurde mir ein verspätetes Weihnachtsgeschenk zuteil, eine Karte für „Hader on Ice“ im Burgtheater. Im Freundeskreis ist jemand abgesprungen, und ich bin eingesprungen. Nach 17 Jahren Kabarett-Pause ist er wieder da, der Meister des Verwirrspiels, der Wahres und Erdachtes gekonnt verwebt. Wahr ist, dass er auf einem Bauernhof in Oberöstereich aufwuchs, dass die Großeltern eine wichtige Rolle spielten in seiner Kindheit, aber ob der Opa dem 5-jährigen Seppi die Handhabung eines Schießgewehrs beibrachte, kann wahr sein oder nicht.
Der laut Wikipedia erfolgreichste Kabarettist Österreichs legt mit „Hader on Ice“ ein fulminantes Gastspiel hin. Nach gut zweieinhalb Stunden Bühnenpräsenz, tosender Applaus.
Der Titel erinnert an „Holiday on Ice“. Hader schlittert souverän durchs Programm, seine Gedankensprünge auf der Eisdecke sind waghalsig, doch er bricht nie ein, er beherrscht Wortakrobatik und Satzverdrehungen, Ausrutscher sind beabsichtigt, denn er trinkt sich in einen Zustand der Berauschung. Trunkenheit aufgrund einer honiggelben Flüssigkeit. Rum on Ice. Auf der Bühne sei Saufen politisch korrekt, sagt er. Fruchtig, würzig wie Rum aus Kuba, das Programm, das bereits 2019 fertig gewesen sei, vor Ausbruch der Pandemie. Zwei Jahre sei es nun auf Eis gelesen und gereift, wie edler kubanischer Rum.
Seit 30 Jahren steht er im Rampenlicht, der scheue Student, der Mitte der 80er-Jahre in einem meiner Proseminare saß, im Hörsaal des Germanistischen Instituts, Liebiggasse 5. Er wählte immer einen Fensterplatz in einer der letzten Reihen, spielte gedankenverloren mit einem Schreibgerät, machte Notizen. Er fiel mir auf, obwohl er unauffällig war. Sein Blick schweifte oft in die Ferne, er war trotz Anwesenheit abwesend, offensichtlich beschäftigt mit etwas, das nicht im Geringsten mit dem zu tun hatte, was ich vortrug.
Kurz darauf las ich seinen Namen in der Zeitung. Er sei im Kabarett Niedermair aufgetreten, hieß es, und ab da ist Josef Hader, der gerade noch ein unbekannter Name auf meiner Liste war, in aller Munde.
Besagte Liste ist übrigens seit meinen Aufräumarbeiten im Keller unauffindbar.
© Sonja M. Winkler 2023-01-15