von Jutta Treiber
Gestern Nacht ist mein Baum gestorben. Mein Tannenbaum im Garten, den Papa für mich gepflanzt hat als ich geboren bin. Er ist in der Mitte gebrochen. Die eine Hälfte steht noch, die andere Hälfte hängt mit dem Kopf nach unten zur Erde. Als ob der Baum sich verneigen würde. Doch je länger ich hinschaue, umso mehr sieht es aus, als ob er sich den Rücken gebrochen hätte. Mein Bruder zuckt darüber nur die Achseln und Papa und Mama vertagen die Angelegenheit auf später.
In der Schule kann ich gar nicht richtig aufpassen. “Was ist los, Bettina?”, fragt die Lehrerin. “Mein Baum ist gestorben”, sage ich. “Aha”, sagt sie. Ich weiß nicht, ob sie mich versteht. Aber sie lässt mich den ganzen Vormittag über in Ruhe.
Als ich nach Hause gehe, denke ich: Vielleicht ist mein Baum gar nicht gestorben. Vielleicht ist er nur krank. Vielleicht kann man ihn aufrichten und stützen und ihm den Rücken verbinden. Vielleicht wächst er zusammen und alles wird wieder gut.
Papa steht im Garten und sägt dem Baum den Kopf ab. “Nicht!”, schreie ich entsetzt. “Nicht!”
Der Kopf fällt. Ich renne hin und streichle die Äste. “Sei nicht traurig”, sage ich zum Baum. “Ich glaube, das war eine Notoperation. Du wirst sehen, alles wird gut!” Papa hackt die Äste kurz und klein und wirft sie auf den Komposthaufen. Mein Baum steht da, kopflos. Papa sagt: “Es ist schade um ihn. Aber da ist nichts zu machen. Ich werde ihn umschneiden und einen neuen Baum für dich pflanzen.” “Ich will nicht, dass du ihn umschneidest! Ich will, dass er stehenbleibt!”, schreie ich. “Aber das hat keinen Sinn!”, sagt Papa. “So wie der ausschaut, hat er sowieso keine Chance mehr.” “Wieso weißt du das?” “Wieso ich das weiß … Ich weiß nicht … Ich weiß es halt.“ “Lass den Baum stehen, Papa! Bitte!” Papa überlegt. Dann schüttelt er den Kopf. Und dann murmelt er etwas. Ich glaube, es klingt wie: “Was bin ich nur für ein Idiot!” Oder so ähnlich.
Mein Baum bleibt stehen. Ich spreche jeden Tag mit ihm. “Du musst wachsen!”, sage ich. “Bitte!”
Vier Wochen sind vergangen. Und eines Morgens bemerke ich, dass mein Baum zwei kleine grüne Spitzen angesetzt hat. Ich laufe hinaus und umarme ihn. Er sticht mich übermütig. “Hei”, sage ich, “nicht frech werden, Kleiner!” Papa steht im Vorzimmer und klimpert mit den Autoschlüsseln. “Papa”, sage ich, “mein Baum bekommt zwei Köpfe!” “Wipfel heißt das”, sagt er und lacht.
Ach, was weiß der Papa schon!
(für die Challenge: Mutter Erde)
© Jutta Treiber 2021-05-03