von Cynthia May
Richard raucht seine Zigarette in langsamen Zügen auf. Ob seine Tochter inzwischen auch raucht und trinkt? Er kriegt so wenig von ihr mit, seit er und Julia getrennt sind. Noch weniger als früher. Er wünscht sich häufig, er hätte damals weniger Zeit hinter seinen Büchern und an seinem Laptop verbracht. Mehr von der kleinen Simone mitbekommen. Simone de Beauvoir, nach einer der größten Feministinnen und Philosophinnen haben sie ihr Mädchen benannt. Und das, obwohl Julia für sie ihre Karriere als Autorin zumindest zwischenzeitlich an den Nagel gehängt hatte, während er damals noch mehr Zeit in seine Promotion steckte. Ironie? Vielleicht. Egoismus und Liebe vertragen sie nicht gut. Als Julia ihm die Scheidungspapiere auf den Arbeitstisch legte, war er kurz schockiert, ehe ein unabdingbares Verständnis sich einstellte. Er hätte vielleicht kämpfen können um sie. Ihr seine Liebe beweisen. Stattdessen hatte er getan, was er immer tat, wenn etwas Schlechtes in sein Leben eintrat: resigniert. Er schlurft zurück an seinen Platz. Er versteht in dem Moment, warum er die Kleine aus dem Zug gern lächeln sehen würde. Er erkennt die gleiche Resignation in ihr, wie in ihm.
Das Mädchen mustert ihn eine Weile: „Sie sehen echt traurig aus“.
„Mir ist etwas klar geworden“.
„Ohje. Sie werden doch nicht eine ewige Klagerede ĂĽber ihr Leben anfangen“
Er schĂĽttelt den Kopf: „Sicher nicht“
„Gut“, sie wirkt ĂĽberrascht, fast etwas enttäuscht.
„Warst du mal in einer Situation, in der du hättest kämpfen sollen, aber stattdessen einfach akzeptiert hast, was geschehen ist?“, fragt er nachdenklich.
Sie starrt ihn an, kaut auf ihrer Lippe: „Sie sind wirklich komisch“, sagt sie.
„Ich bin Philosophie Professor „
Ihre Mundwinkel heben sich spöttisch: „Etwas in der Art habe ich mir gedacht – das oder Lehrer, die haben es an sich, Leute zu nerven“
„Ist das so?“
„Meistens. Ich glaube Sie sind vielleicht aber ganz ok, auch wenn Sie nerven.“ – „Danke…“
„Ich hab ständig das GefĂĽhl. Wenn meine Eltern streiten. Wenn meine Mutter heult und ihre Sorgen mit Schnaps wegspĂĽlt. Wenn mich wieder einer verarscht. Wenn mein Bruder wieder auf Drogen ist“, sie verschränkt die Arme vor der Brust, „scheiĂźe“ murmelt sie. Tränen glänzen in ihren Augen, er kramt in seiner Tasche, zieht ein Taschentuch heraus und reicht es ihr.
„Das is voll peinlich“ flucht sie. Er schĂĽttelt den Kopf: „Nein“
„Philosophie ja? Was unterrichten Sie denn da so?“
Er lächelt: „Das interessiert dich?“
„Eigentlich schon. Ich will studieren vielleicht, ich mach grade mein Abi, meine Eltern sagen, ich soll lieber ne Ausbildung machen… aber ich glaub Philosophie fänd ich gut“.
Er wĂĽhlt erneut in seiner Tasche. Holt ein abgegriffenes Buch heraus. Grundlagen der Philosophie. Er reicht es ihr: „Ist nicht mehr so schön, aber da steht fast alles drin, was du im ersten Semester lernst, du kannst es haben, wenn du willst“.
„Echt?“, sie hält es in den Händen, als enthalte es alles Wissen dieser Welt. Und vielleicht tut es das.
„Klar“.
In ihre Augen schleicht sich ein Leuchten, sie sieht wunderschön aus, als sie lächelt.
© Cynthia May 2023-08-16