Kailash, der heilige Berg

Franz Herzog

von Franz Herzog

Story

Der Kailash in Westtibet gilt in der Mythologie vieler Kulturen als Weltenberg Meru. Buddhisten, Hindus und Jains umrunden ihn zur spirituellen Erneuerung im Uhrzeigersinn. Nur die AnhÀnger der alten Bönreligion in der Gegenrichtung. Manche messen die Strecke sogar mit ihrem Körper aus und sind monatelang unterwegs.

Als ich bei unserer Umrundung nach Sonnenaufgang aus dem Zelt schaue und die senkrechte Nordwand des Kailash im ersten Morgenlicht erblicke, beginne ich zu verstehen, welch tiefes religiöses Erleben dieser Anblick bei den frommen Pilgern auslösen wird. Und ich schreibe in mein Tagebuch: der Kailash, ein Fenster in die Ewigkeit.

Auf unserer dreitĂ€gigen Wanderung kommen wir an der StĂ€tte der HimmelsbegrĂ€bnisse vorbei. Abgelegte Kleider liegen herum, Geier und Raben kreisen ĂŒber den zerstĂŒckelten menschlichen Körperteilen. Schnell verlassen wir den makabren Ort. Doch fĂŒr die Tibeter ist diese Form der Bestattung mit der schönen Vorstellung verbunden, dass die Vögel die toten Körper in den Himmel tragen.

FĂŒr uns heißt es jetzt, den mĂŒhsamen Anstieg auf den höchsten Pass, den Dölma La (5700 m), in Angriff zu nehmen. Der Sauerstoffmangel in der Atemluft macht uns zu schaffen. Auf dem Pass treffen wir zwei tibetische Frauen, die im Festtagsgewand mit einem Umhang aus Leopardenfell ihre GebetsmĂŒhlen drehen und sich betend immer wieder auf den Boden werfen. Sie sind aus dem fernen Osttibet angereist, um einmal in ihrem Leben Guru Rinpoche am Kailash zu huldigen.

Die Legende erzÀhlt, dass der tibetische Yogi Milarepa auf einem Sonnenstrahl reitend als Erster auf dem Gipfel des Kailash stand und den Wettlauf mit einem Bönpriester gewann. Bis heute haben die Bergsteiger der Welt den heiligen Berg respektiert und auf eine Besteigung verzichtet.

Verzichtet haben die Chinesen inzwischen auch auf den Bau einer Straße rund um den Kailash. Internationale Proteste konnten schließlich den heiligen Berg beschĂŒtzen. Wir haben im Jahr 2000 noch die Vermesser mit ihren Theodolithen gesehen.

Unterwegs begegnen wir zwei jungen tibetischen Mönchen, die ĂŒber den Himalaya zum Dalai Lama nach Indien geflohen sind. Sie wollen sich nachts ĂŒber die Grenze schleichen und ihre Eltern in Lhasa besuchen. Mutig, aber riskant, wenn sie entdeckt wĂŒrden.

Herbert Tichy, der berĂŒhmte Erstbesteiger des Cho Oyu (8201 m) und Reiseschriftsteller, musste sich 1935 als indischer Pilger verkleiden, als der Besuch des Kailash fĂŒr EuropĂ€er noch streng verboten war. Ich habe Tichy noch persönlich kennengelernt und mich mit ihm ĂŒber Abenteuer im Himalaya ausgetauscht.

Vom Kailash fahren wir durch eine bizarre BergwĂŒste zu den geheimnisvollen Klosterburgen von Tsaparang und Tholing. Ihre fantastischen alten Fresken sind aber der Zerstörungswut der chinesischen Kulturrevolution zum Opfer gefallen. Wir sind erschĂŒttert beim Anblick der EinschĂŒsse an den uralten Fresken und den herausgehackten Gesichtern der Heiligen.

© Franz Herzog 2020-11-13

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