Kalabrischer Klan

von Jamal Tuschick

Story
In der Gegend von Philippsthal an der Werra im osthessischen Landkreis Hersfeld-Rotenburg

Was zuvor geschah

Sie, meine lieben Leserinnen und Leser, haben den Unternehmer Adem Koyuncu als Ich-Erzähler kennengelernt. Ich erhöhe die Wahrnehmungsreichweite mit einem Perspektivwechsel. Nun spricht ein allwissender Erzähler. Adem kommt in die Isola Bella, um sich mit seinem Geschäftsfreund Luciano Montana in einer eher unbedeutenden Angelegenheit abzustimmen. Seine älteste, in einem rabiaten Scheidungskampf ihm entfremdete Tochter rauscht an Adem vorbei. Nora lebt bei ihrer Mutter. Als Freundin des Montana-Nachwuchses zählt sie zur Familie des Paten von Kraichhain. Adem alarmiert, eher noch verängstigt die Vertrautheit seiner Tochter mit dem kalabrischen Klan. Da sind nicht bloß gemischte Gefühle. Sorge ist Adems stärkste Empfindung, sobald es um seine Kinder geht. Wir reden hier von drei leiblichen und zwei angenommenen, nach allen Seiten ausschlagenden Persönlichkeiten.

So geht es weiter

Adem greift in eine Schüssel voller Cannoli siciliana – sizilianische Cannoli mit Zitronen-Füllung. Die Waage in seinem Kopf schlägt sofort aus. Schlank zu bleiben ist die härteste Arbeit, die er sich abverlangt; ein Projekt seiner Eitelkeit, dem gerade der Kollaps droht. Luciano taucht aus einer Kellerluke auf. Er ist ein Mordskerl, immer lustig. Grenzenlos umgänglich. Sein bacchantisches Format verbirgt eine zweite Fassung, eine furiose B-Seite. Der Pate nähert sich dem dynastischen Unternehmer wie ein balzender Pfau. Er liebt die Übertreibung, das Grandiose und Geschmetterte. Der fulminante Auftritt seines Herrn treibt den Koch aus der Küche. Er muss auf dem Laufenden bleiben und darf die Stichworte des Abends auf keinen Fall verpassen. Adem will gleich weiter. Das kann er sich abschminken. Adem ist Gast des immer noch geschlossenen Hauses. Er muss die hausgemachten Spinat-Gnocchi in Pilzrahmsoße und Salsiccia al forno con patate probieren. Und das ist nur der Anfang. Beim Alkohol beißt der generöse Gastgeber auf Granit. Adem trinkt nur Wasser. Er nennt das Kaloriensparen, da wo es nicht wehtut. Die Isola Bella war der ewig rotweiß eingedeckte Lieblingsitaliener seiner Eltern. Die Wachsmanschetten an Flaschenhälsen und das von Plastikkrebsen bevölkerte Fischernetz wichen gemeinsam mit der Wurlitzer Musiktruhe schließlich einem sachlichen Schick. Die Eltern trafen manchmal erst abends um elf ein. Sie wären morgens um drei noch ohne Abstriche bewirtet worden. Sie rutschten von ihren persönlichen Gletschern in ein warmes Auffangbecken. Mensch sein dürfen hieß das Programm zum Feierabend. Nichts brachte die Wirtsleute aus der Ruhe. Das Personal schien nie zu wechseln. In Wahrheit wird in der Isola Bella kein Kellner alt. Die Trattoria ist ein Durchlauferhitzer. Junge Männer kommen und gehen. Alle tragen ihre Schürzen und Krawatten auf die gleiche locker korrekte Weise. Adem beobachtet Anflüge von Förmlichkeit, sobald der Patron ins Spiel kommt. Mit Luciano spaßt man nicht. Keiner nimmt seine Söhne auf den Arm. Die Kinder des Paten stehen vor dem Lokal und sprechen mit einem älteren Verwandten, der Stunden in seinem Mercedes S 600 mit laufendem Motor sitzt, aber keine Zeit hat, auszusteigen.

© Jamal Tuschick 2024-04-24

Genre*
Romane & Erzählungen
Stimmung
Abenteuerlich
Hashtags
Magie, Migration, Landlust, Provinzpower