von MarcStroot
Schon von oben hatte sie die karge Landschaft, die im Sommer unter der starken Sonneneinstrahlung litt, wahrgenommen. Das störte sie nicht. Für sie war die Insel ein Zufluchtsort, ein zweites Zuhause. Wo sie sonst Freude und ein kribbelndes Gefühl vernahm, spürte sie während der Landung ein flaues Drücken in der Magengegend. Sie schob die Gedanken daran beiseite.
Gepäck musste sie keines holen und konnte direkt zum Mietwagenverleih gehen, wo sie sich einen kleinen Flitzer besorgte. Ihren in die Jahre gekommenen Rucksack stellte sie behutsam auf den Beifahrersitz. Erst hatte sie vor, ihn festzuschnallen, überlegte es sich dann allerdings anders. Sie rollte vom Gelände des Flughafens und steuerte ihrem Ziel entgegen.
Trotz der Trockenheit im Hochsommer verlor Mykonos nichts von seiner Schönheit. Die weißen Häuser der kleinen Dörfer und Städte ragten hier und da empor und verschmolzen mit ihrer Umgebung zu einem ihr vertrauten Gemälde. Die Klimaanlage hatte sie nicht eingeschaltet. Stattdessen hatte sie die Scheiben heruntergelassen, um die warme Sommerluft auf ihrer Haut zu spüren. Wehmut stieg in ihr auf, doch wollte sie dem Drang nicht nachgeben und summte freudig vor sich hin. Dabei strich sie zärtlich über ihren Rucksack. Es sollte alles perfekt sein, auch wenn es sich komisch anfühlte.
Der Wagen entfernte sich zunehmend mehr von der Zivilisation. Sonst war ihr direkter Weg immer durch die schnuckeligen Gassen von Mykonos Stadt gewesen, wo die Häuser dicht an dicht standen. Heute nicht. In einiger Entfernung sah sie die Kato Mili mit den zehn Windmühlen, die früher zur Getreideverarbeitung genutzt wurden. Sie liebten diesen Ort. Oft standen sie hier und blickten in den Horizont. Dort hatte er ihr den Antrag vor 50 Jahren gemacht.
Minuten später hatte sie ihr Ziel erreicht. Die von Altersflecken übersäte Hand fasste den Henkel des Rucksacks und sie stieg aus. Langsamen Schrittes ging sie in Richtung Meer. An dieser Stelle hatte sie ihm begeistert ihr JA entgegengerufen und geküsst.
Sie hielt inne, stellte den Sack ab und öffnete den Reißverschluss. Ihre Hände glitten hinein und beförderten die terracottafarbene Urne zutage, auf der in griechischen Liebe eingraviert war. Schweren Herzens entnahm sie den Deckel und verstreute den Inhalt zusammen mit dem Wind ins weite Meer. So wollte Heinz es, so sollte es sein. Und sie hatte ihm versprochen, alle Sehenswürdigkeiten, die er immer ungern aufsuchte, zu erkunden und einen schönen Urlaub zu verbringen.
Das tat sie nun und brach mit einem Lächeln auf.
© MarcStroot 2021-03-19