Kalter Winter – im Herzen warm

Astrid Holzmann-Koppeter

von Astrid Holzmann-Koppeter

Story

Ich spaziere den Gehsteig entlang. Normalerweise werde ich zu dieser Jahreszeit rĂĽcksichtslos von links und rechts angerempelt. Dieses Jahr ist es ruhig. Die Leute halten Abstand. Ich halte Abstand. Und ich trage eine Maske, sogar drauĂźen, weil sie trotz all der unangenehmen Nachteile wenigstens mein Gesicht vor dem eisigen Wind schĂĽtzt.

Im Licht der Laterne kommen mir eine Frau und ein kleines Mädchen entgegen. Sie gehören zusammen, die Frau hält das Mädchen am Arm, vermutlich ist sie ihre Mutter. Die Frau trägt eine riesige Tupperdose voll Kekse. Sie riechen wie frisch gebacken. Als ich an den beiden vorbeischlendere, sehe ich, dass es ganz viele verschiedene Sorten sind, auf jeden Fall Vanillekipferl, Linzer Augen und Kokosstangen. Ich frage mich: Wo wollen sie mit den Keksen hin? Zum Vater? Zu den Großeltern? Ins Altenheim? Ins Krankenhaus? Die Möglichkeiten sind endlos lang und dann doch wieder nicht – immerhin ist das soziale Leben zur Zeit massiv eingeschränkt.

Während ich auf meine Mitfahrgelegenheit warte, vertrete ich mir auf dem Gehsteig die Beine. Vor dem Supermarkt, direkt neben dem Eingang, sitzt ein junger Mann. Er hockt im Schneidersitz auf einer Decke am Boden und bittet die Menschen rundherum um eine Spende. Als unsere Blicke sich treffen, drehe ich mich weg. Ich tue das, was alle Anderen tun: Ich ignoriere ihn. Ich weiß, es ist verpönt, so etwas auszusprechen, aber sein Anblick ist abstoßend – nicht wegen seiner selbst, sondern wegen dem, wofür er steht: Versklavung. Versklavung, die wir alle zulassen, weil wir uns nicht verantwortlich fühlen. Wir blenden sein Leid ganz bewusst aus und zwar nicht, weil wir uns nicht für ihn und sein Schicksal interessieren, sondern weil wir davon überzeugt sind, dass wir ihm nicht helfen können. Wir wissen, dass ein paar Münzen seine Situation nicht verbessern. Er ist gefangen – in seiner eigenen Welt, und wir in der unsrigen.

Das Mädchen zupft die Frau am Ärmel ihres schicken weißen Mantels, sie sagt „Mama, schau!“, dabei zeigt sie auf den Bettler, der nur wenige Meter vor ihnen kniet. Mutter und Kind wechseln ein paar Worte. Schließlich nickt die Mutter, dann bückt sie sich zu der Kleinen hinunter und öffnet die Tupperdose. Das Mädchen zieht die Fäustlinge aus, greift sich eine Handvoll Kekse, steuert in Richtung Supermarkt und überreicht sie freudestrahlend dem Bettler. Dieser ist ob der Herzlichkeit so überrascht, dass er den Tränen nahe ist. Er nimmt die Kekse dankend an. Sein Blick ist ehrlich. Er freut sich. Und mir wird schlagartig klar, dass unsere beiden Welten gar nicht so verschieden sind.

© Astrid Holzmann-Koppeter 2020-12-22

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