In der einen Ecke des Boxrings stehe ich. Klein, ängstlich und schwach. In der anderen die Perfektion. Mächtig, selbstbewusst und stark. Ding Ding Ding. Die Glocke ertönt. Runde 1. Kämpft! Der furchteinflössende Gegner bewegt sich auf mich zu. Mein Kopf versucht mir klar zu machen, dass ich keine Chance habe und weglaufen sollte. Doch meine Beine bewegen sich kein Stück. Mein gegenüber holt aus, nach wenigen Sekunden ein stechender Schmerz in der Magengegend. Ich zucke zusammen und für kurze Zeit wird mir übel. Der Überlegene holt nochmals aus und trifft mein linkes Schulterblatt. Wieder schlägt der Schmerz wie ein Blitz ein. Ding Ding Ding.
Wie im Bann lasse ich mich auf den Stuhl, der hinter mir in der Ecke steht, fallen. Jetzt wäre der Auftritt des Trainers der einen mit Wasser versorgt und wieder aufbaut. Er ist dafür da den Kämpfer zu motivieren und stark zu machen. Doch meine Ecke im Ring ist leer. Kein Wasser, kein Zuschauer und auch kein Trainer der für mich da ist und mich unterstützt. Es ist still. Ich bin alleine.
Die Glocke reißt mich aus den Gedanken. Runde 2. Mein Körper geschwächt von den vorherigen Treffern. Ich stelle mich auf die wackeligen Beine. Kurz darauf schlägt mein Gegner erneut zu. Er trifft mich mit voller Wucht an der Schläfe. Ich verspüre den Aufprall beider Körperteile und dann… Nichts, nichts außer Dunkelheit. Eine tiefe Stimme durchbricht die Leere, sie fängt an rückwärts zu zählen. 10.. 9.. 8.. 7.. Doch was nun? Liegen bleiben und aufgeben?
Eine Stimme, dann eine zweite und plötzlich klingt es als wäre die Halle gefüllt mit Leuten, die mich anfeuern und wollen, dass ich wieder aufstehe. 4.. 3.. 2.. Ich reiße die Augen auf und versuche mich zu sammeln. Vorsichtig knie ich auf ein Bein und stemme meinen Körper in die Höhe. Schwindelig und außer Atem lasse ich meinen Blick durch den Raum gleiten. Tatsächlich, meine Familie und Freunde stehen auf einmal außerhalb des Rings. Auch eine Trainerin ist an meiner Seite und reicht mir den Strohhalm der Flasche. Ich spüre wie kaltes Wasser meinen trockenen Rachen hinunterfließt. „Gib nicht auf Ines, kämpfe weiter!“, motiviert sie mich.
Die Glocke erklingt. Meine Fans feuern mich an. Ich spüre die Energie und eine gigantische Kraft die sich in mir aufbaut. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl stark zu sein. Jetzt oder nie! Mit geballten Fäusten schreite ich auf die Perfektion zu. Wie ferngesteuert schlagen meine Fäuste immer wieder auf den Gegner ein. Bis dieser in die Knie sackt und bewusstlos auf dem Boden liegt. Dann wieder 10.. 9.. 8.. 7.. 6.. 5.. 4.. 3.. 2.. 1..
Und der Gewinner ist: INES! Die Menge kann sich nicht mehr halten, stürmt in den Boxring und stürzt sich auf mich. „Wir wussten du kannst es schaffen“, höre ich sie rufen. Zwar geschwächt aber glücklich lasse ich mich in die Arme meiner Lieben fallen und genieße diesen schönen Augenblick.
Ein Kämpfer alleine fühlt sich oft schwach und zerbrechlich, doch mit der Unterstützung seiner Liebsten kann er unbesiegbar sein!
© Ines Leitold-Mähr 2021-08-20