Kampfmöwe

Katrin Ring

von Katrin Ring

Story
Norderney

Ich habe das Gefühl, dass mich der Winter auf der Insel von einem Café ins nächste treibt. Aber um sich draußen an der Strandpromenade oder direkt am Strand länger hinzusetzen, ist es einfach meistens zu kalt und zu windig. Und Pausen brauche ich. Also probiere ich jeden Tag ein neues Heißgetränk in einem der trotz Winterpause geöffneten Cafés aus. Es gibt Schlimmeres, denke ich, als ich mich mit einem Glas frischen Minztee in die Loungeecke der Weißen Düne setze. Im Kamin knistert ein Feuer, der Wind rüttelt an den Scheiben, und ich sitze warm und gemütlich auf einem Sessel mit Blick auf Dünen und Meer. Hinter mir sitzt eine fröhliche Gruppe Wanderer, die sich mit Suppe und Currywurst aufwärmen. Wir alle genießen die Zeit hier am knisternden Feuer. Ich schaue aus dem Fenster, freue mich am Blick aufs Meer, das ich zwischen den Dünen erspähen kann. Ein paar eiserne Gäste sitzen auf der Terrasse und essen dort noch ihren Kuchen, bevor die Sonne ganz weg ist. Da passiert es: Ein Kind flitzt zwischen den Tischen herum und fegt dabei mit einem großen Schwung einen Teller mit Pflaumenkuchen vom Tisch. Der Kuchen landet auf dem Boden. Alle tragen es mit Fassung. Niemand schimpft, es wird neuer Kuchen bestellt. Alles wieder gut. Einige freuen sich sogar richtig über das Malheur: Frau Möwe kommt als erste angeschossen und schnappt sich einen Teil des Kuchens. Dann kommen zwei ihrer Kollegen und tun es ihr gleich. Es entsteht ein wildes Gehacke um die letzten Brocken. Dass sich die Raubvögel nicht die Augen gegenseitig auskratzen, ist ein Wunder, so rabiat gehen sie vor. Als die Kellnerin kommt und wild in die Hände klatscht, flüchten die Vögel. Sie haben bekommen, was sie wollten.
Ich bin etwas entsetzt über meine Freundin. Frau Möwe ist doch sonst so freundlich, klug und gebildet. Wie kann sie sich für ein paar Kuchenkrümel hier so daneben benehmen? Das passt gar nicht zu ihr! Als ich später aus der Weißen Düne heraus komme, sitzt sie immer noch in Sichtweite der Terrasse. Ich spreche sie darauf an, was ich beobachtet habe. Ich habe wohl einen leichten Vorwurf nicht aus meiner Stimme heraushalten können. Sie geht jedenfalls gleich in die Verteidigung: Ich war als erste da, das war mein Kuchen. Wenn mir den jemand klaut, muss er mit ein paar Kratzern rechnen. Stell dich mal nicht an, du isst ja auch dauernd Kuchen und trinkst Tee! Ja, schon, entgegen ich. Aber ich prügle mich nicht darum! Mensch, du bist wirklich komisch. Ich sorge für mich, weil niemand anders für mich sorgt. Die anderen Möwen würden mich nicht freundlich fragen, ob sie mir ein Stückchen Kuchen abgeben sollen. Und ihr Menschen gebt uns auch nicht freiwillig was ab! Jetzt werde auch ich etwas lauter. Na, wenn man euch einmal anfüttert, wird man euch ja nicht mehr los! Das ist ja sogar verboten, euch zu füttern! Aus gutem Grund! Da hast du es, krächzt Frau Möwe. Da hast du den Grund, aus dem wir uns ohne Rücksicht auf Verluste auf die Leckerbissen stürzen, die bei Tisch abfallen. Sonst kämen wir ja nie in den Genuss! Ich glaube, da kommen Frau Möwe und ich nicht auf einen Nenner. Vielleicht sind wir einfach zu verschieden. Für sich sorgen, ja, das ist wichtig. Das tue ich ja auch, gerade hier auf er Insel. Aber ohne Rücksicht auf Verluste? Nein, das ist nicht mein Weg. Vielleicht kennen Möwen einfach keine Moral. Vielleicht sind wir da wirklich zu verschieden. Ich beschließe, weiter gut für mich zu sorgen. Aber anderen dabei die Augen aushacken werde ich nicht.

© Katrin Ring 2024-02-06

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Inspirierend, Reflektierend
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