#meditation #wahrnehmung #hingabe
Dann bin ich zu ihm gefahren. In seine Bude, so nennt er sie. Er lebt abgelegen, eigen, nennen ihn die Leute. „Der tut, was er will und nimmt sich kein Blatt vor den Mund!”, sagen sie.
In der Eingangstür begrüßt mich seine Katze. Nie darf sie jemand streicheln, doch von mir lässt sie es heute zu. Der Gang zum Wohnzimmer ist schmal und ich setze mich auf seine Couch. Es ist wohlig warm, er hat den Ofen angeschmissen, erklärt er und ob ich Kaffee möchte, fragt er mich.
Während er in der Küche verschwindet, sehe ich mich um, dann ruft er: „Ich habe jetzt einen Fernseher, damit ich weiß, was in der Welt da draußen los ist. Da drüben sind die Meditationskissen und meinen Lieblingssessel, den gebe ich nicht weg!” Dabei zeigt er auf seinen aus Leder abgewetzten, alten Massagestuhl. „Mein Fauteil!”, ruft er. Ich grinse, denn diese Wortwahl bin ich bei ihm nicht gewohnt.
„Am liebsten würde ich wegziehen, ans Meer. Ich mach nochmal den Segelschein, wirst schon sehen!”, gibt er mir mit betonter Miene und zeigendem Finger zu verstehen.
Mittlerweile habe ich mich im Schneidersitz neben ihn gesetzt. Mein Kaffee ist noch heiß und ich versuche ihn etwas abzukühlen. „Rauchst du noch?”, frage ich ihn. „Manchmal. Ich muss mir meinen Vollbart zurechtschneiden lassen. Er sieht schon etwas verwildert aus. Sag, was ich dich schon mal fragen wollte? Würdest du mich eigentlich gern mal küssen? Mann mit Bart?” Ich höre seine sprunghaften Sätze, sehe ihn lächelnd an und sage: „Da müsstest du ein Mann sein, der auch schon mal eine behaarte Vulvina küsst! Ich mag deinen Bart! Weiß wird er schon, das gefällt mir. Ich zeige auf meine eigenen weißen Strähnen in den Haaren und sage: „Da, schau mal!”
Er verzieht keine Miene und meint: „Es ist schön, alt zu werden.”
Ich schließe nun auch die Augen wie er, lausche und sage etwas später: „Ich bin gerne bei dir. Ich liebe diese Ruhe. Sag einmal, hast du deine eigene Stille schon mal gehört? Ich weiß noch, als sie bei mir da war und sie war überhaupt nicht still. Sie war laut!”
Er sagt: „Erzähl mal!” Ich halte meine Augen geschlossen und spreche weiter: „Ich kam von einem Treffen nach Hause. Irgendetwas hat mich dort angetriggert. Ich habe es dann erst später herausgefunden. Ich bin die ganze Nacht wach gelegen und hatte ungeheure Angst. Ich weiß noch, dass ich irre Kopfschmerzen bekam, das kannte ich so nicht bei mir. In meiner Verzweiflung habe ich dann diese Angst einfach über mich ergehen lassen, ich habe mich fallen lassen und dann war plötzlich diese Stille da. Ich konnte sie hören, sie war wunderschön!”
Mein Freund steht auf und lässt leise Musik laufen. Er berührt mich sanft auf der Schulter und sagt: „Ich habe sie auch gehört.”
Ich sage zu ihm: „Bitte gehe nicht fort. Mit wem soll ich dann reden und meditieren? Mit mir alleine macht es nicht so viel Spaß!”
Er sieht mich an, greift sich an seinen Bart und grinst schelmisch: „Na gut, ich bleibe. Aber irgendwann werde ich dich dann schon mal küssen müssen!”
© die kunst der perspektive 2022-01-24