Kapitel 1

Friederike Müller

von Friederike Müller

Story

17.06.

Lieber Silas,

ich habe verdammte Angst, weil du mir seit zwei Wochen nicht mehr auf meine Briefe anwortest. Ich vermisse dich, ich vermisse dich so sehr, dass ich es manchmal gar nicht aushalte. Mir geht es echt total mies und ich habe keine Ahnung, mit wem ich darüber reden soll. Es war wirklich eine schreckliche Idee ohne Handy deine Selbstfindungsreise anzutreten. Das habe ich dir von Anfang an gesagt, aber du wolltest ja nicht auf mich hören, denn schließlich zählen digitale Medien nicht als gesunde Parameter in deinem Experiment. Das hast du mir jeden Tag vorgebetet. Ich mache mir echt Sorgen um dich. Deine Eltern haben mir gesagt, dass du ihnen letzte Woche eine Postkarte geschickt hast und sie sich nicht erklären können, warum ich kein einziges Lebenszeichen mehr von dir erhalte. Deine Mom hat mir sogar einen heißen Zitronentee gemacht, obwohl es Mitte Juni ist und mir dann furchtbar mitleidig den Rücken getätschelt. Ich glaube, dass sie mich langsam für verrückt hält. Schließlich stand ich nach einer langen Schicht unangekündigt vor ihrer Haustür, obwohl sie seit ihrem Umzug zwei Stunden von mir entfernt wohnen. Ich muss echt wie eine Irre ausgesehen haben. Silas, ist dir irgendetwas passiert? Du kannst mir alles sagen, du bist doch mein bester Freund und wir haben uns noch nie etwas verschwiegen. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen, ohne an dich zu denken. Bitte melde dich, bitte.

Bis hoffentlich bald, deine Sky

24.06.

Silas,

eine weitere Woche ist vergangen und wieder habe ich keine Antwort von dir bekommen. Was ist los mit dir? Du kannst mich nicht einfach ohne jegliche Erklärung aus deinem Leben streichen. Ich verdiene eine Antwort, zumal ich wirklich keinen blassen Schimmer habe, was ich falsch gemacht habe. Es tut weh, wenn wir nicht reden. Es tut so sehr weh, dass ich manchmal kurz darüber nachdenke, ob ich nicht einfach nachkommen soll. Aber wem mache ich hier etwas vor? Du antwortest mir nicht mehr auf meine Briefe, warum solltest du mir dann die Haustür aufmachen? Eine Haustür, von der ich nur weiß, dass sie sich irgendwo in einem Hotel eines älteren Ehepaars am anderen Ende von Deutschland befindet, in welchem du, im Gegenzug zur Arbeit dort, wohnen kannst. Wir haben uns versprochen, dass wir immer füreinander da sind. Wo bist du jetzt? Ich vermisse deine Stimme und noch mehr vermisse ich dich. Ich wollte es dir nicht so sagen, aber Bobby ist gestorben. Mein Herz ist gebrochen, ich schaffe das alles nicht mehr allein. Jeden Tag breche ich ein kleines Stückchen mehr zusammen und niemand nimmt es wahr, weil mich eben niemand so sieht wie du. Du bist die einzige richtige Familie, die ich noch habe. Zumindest die einzige Familie, die für mich in den letzten Jahren da war. Ich fühle mich so verloren und kann mir einfach nicht erklären, warum du nicht mit mir sprichst. Falls da etwas ist, was ich tun kann, damit du dich wieder meldest, sag es mir.

Ich hab dich trotz allem sehr lieb, Sky

© Friederike Müller 2023-09-01

Genres
Romane & Erzählungen