Kapitel 1: Ave Marias

C. A. Saltoris

von C. A. Saltoris

Story
Rio de Janeiro, Toskana 1860 – 1890

Ich bete Ave Marias. Nur Ave Marias. Mutter ist heilig.
Ave Marias sind der Geruch heißer Suppe, der feuchte Kuss auf die Stirn, die vollen Brüste, die Tränen auffangen. Vaterunser nicht. Diese sind die Riemenspuren auf meinen Armen, Beinen und meinem Rücken. Rubinrot waren sie einmal, die Narben. Rubinrot und schleimig. Früher haben sie gebrannt. Heute sind sie wurmig und taub, aber sie hören nicht auf zu schmerzen. Keine Sekunde hören sie auf zu schmerzen. Man sagt, es gibt keinen Schmerz, der ewig währt. Aber ich weiß, dass das nicht stimmt. Es gibt Schmerzen, die in die Seele eindringen und dort bleiben. Die das Leben sicher überdauern.
Mit fast dreißig kehrte ich in die Toskana zurück… man könnte sagen, auf der Suche nach meiner Identität. In die Heimat meiner Eltern, umgeben von sanften Hügeln, die sich wie ein riesiges, aufgewühltes grünes Meer bis zu den Bergen erstrecken, die so ganz anders sind als die feuchten Hügel der wilden Wälder, in die ich geflohen war. Dorthin bin ich immer geflohen, wenn ich dem Gürtel meines Vaters und seinem endlosen Vaterunser zu entkommen suchte, wenn er mich schreiend mit dem Gürtel zwang, in meinen eigenen Tränen zu ertrinken und auf dem Mais zu knien, bis ich blutete. An den Tagen, an denen ich entkommen konnte, kehrte ich nach Hause zurück, weil ich meine Mutter sah, die verzweifelt die Straßen nach mir absuchte. Hinter Bananenstauden versteckt, im Schutz der Nacht, hielt ich Ausschau nach der kleinen Flamme, die in der Lampe in ihrer Hand tanzte. Ich kehrte zu ihr zurück und blieb ihretwegen. Jahrelang genoss ich die besondere väterliche Behandlung. Als er starb, weinte ich nicht, nicht einmal vor Erleichterung. Und als der Priester das Vaterunser sprach, spuckte ich auf den Sarg und tat eine Woche lang Buße —die süßeste Strafe meines Lebens. Frei von der Peitsche, dem im Brasilien des 19. Jahrhunderts so verbreiteten Folterinstrument, hatte sich das Leben in der Einwandererherberge in Rio de Janeiro, wo ich geboren wurde, für mich viel besser entwickelt. Unser Leben in Rio wäre eine Geschichte für sich: Es war blühend, anregend und geheimnisvoll.
Nachdem meine Mutter von uns gegangen war, zog ich in meinen Zwanzigern aus, um die Welt zu sehen und Arzt zu werden. Vier Jahre später kehrte ich in die Heimat meiner Eltern zurück und bot im chaotischen alten Italien meine Hilfe an, wo immer ich konnte. Im Tausch gegen Brot und einen Unterschlupf zum Ausruhen, was fast immer klappte. Ein Wunder in Zeiten von Hunger und Verzweiflung. Manche sagen, dass die Leute wegen meines guten Aussehens großzügig zu mir sind: symmetrisches Gesicht, schwarze Haare, die meine seltenen, melancholischen bernsteinfarbenen Augen betonen. Ich wecke Gefühle in den Frauen, habe ich gehört. Ich habe es nie bemerkt, aber wenn es so ist, dann muss es die einzige gute Eigenschaft sein, die Gott mir je gegeben hat. Und ja, ich könnte von meinen Abenteuern in den feuchten Straßen von Rio de Janeiro erzählen, von meinen Reisen und von so vielen anderen Figuren in meiner Geschichte, die mich zu dem Mann gemacht haben, der in das Land seiner Vorfahren zurückgekehrt ist. Das könnte ich. Aber dies ist keine Geschichte über die Jahre zwischen den Zeilen. Dies ist eine Geschichte über Ave Marias, Vaterunser und gefallene Engel. Und darüber, dass nichts davon dich vor dem retten kann, was du bist.

© C. A. Saltoris 2023-08-22

Genres
Spannung & Horror, Science Fiction & Fantasy
Stimmung
Dark, Emotional, Mysteriös, Dunkel
Hashtags