von Lea Chantal Ruff
Hier saß ich also. Allein. In der Sicherheit der mich verzehrenden Nacht. Meine schlanken Finger waren vor Kälte schon ganz blau. Mein leerer Blick schweifte über den verlassenen alten Friedhof. Keine Menschenseele. Keine Geräusche. Nur ich und meine Gedanken, die hier so laut sein durften, wie sie wollten, denn hier hörte und sah mich niemand. Verloren blickte ich auf die Grabsteine vor mir.
Heiße Tränen rannen über mein kreidebleiches Gesicht und malten mit dem Eyeliner und der Wimperntusche ein Kunstwerk auf meiner Haut. Wie schon so oft zitterten meine Hände, mein Blick war verschleiert. Es existierte wirklich nur noch ich, aber nicht ich heute, sondern ich vor über 12 Jahren. Ich sah den Sarg vor meinem inneren Auge, den Sarg mit dem schwarzen Samt und das junge Mädchen, welches weinend und voller Schmerz davorstand und versuchte zu verstehen. Doch das konnte sie nicht. Wie sollte sie verstehen, dass sie jetzt allein war? Bis heute hatte ich nicht verstanden, dass sie weg ist, und genau das machte mich wohl auch zu dem, was ich bin: einer Einzelgängerin, ohne Freunde, ohne Familie, ohne jemanden, der mich tröstete, wenn ich nicht mehr weiterwusste. Mein Vater hatte sich mal wieder komplett volllaufen lassen und ist dann vom Zigaretten holen nie wieder heimgekommen, aber das war wohl auch besser so. Meine beiden Brüder sind bei einem Autorennen gestorben, vor 14 Jahren. Damals war ich gerade 7 Jahre alt. Meine Mutter war alles für mich, nur leider war ich ihr nicht wichtig genug, um diese verdammten Pillen nicht zu schlucken, nicht in die Badewanne zu steigen und nicht noch eine Flasche Wodka hinterher zu kippen. Nach ihrem Tod war alles in mir gebrochen, niemandem konnte ich mehr vertrauen, bis heute. Ich wurde von Pflegefamilie zu Pflegefamilie gereicht, als wäre ich ein unliebsames Haustier. Nachdem auch das letzte Jugendamt anerkannt hatte, dass ich einfach nicht zu vermitteln war, wurden bei mir eine Psychose und mehrere starke Traumata diagnostiziert. Ich kam in die Anstalt. Hatte keine Rechte mehr und sollte dort so lange bleiben, bis ich vermittelbar wäre, dass dieser Punkt nie eintreten würde, war wohl allen Beteiligten bewusst. Jahre vergingen, irgendwann täuschte ich eine Genesung vor und versuchte, mich dem System anzupassen. Die Highschool schloss ich mit Bravour ab, begann nebenher als Buchhändlerin zu arbeiten und durfte in das 1-Zimmer-Apartment über der Buchhandlung einziehen, als ich endlich 18 war.
Ein Wimmern riss mich aus meinen Gedanken und auch aus meinem Selbstmitleid. Was war das? Normalerweise war hier sonst niemand. Ich sah mich um, doch es hatte begonnen zu regnen, in Strömen. Ich war bereits bis auf die Knochen durchnässt und hatte es nicht mal gemerkt. Ich sollte reingehen. Ins Apartment. In Sicherheit. Doch ich fühlte, dass ich hier jetzt und sofort gebraucht wurde. Ich schirmte meine Augen so gut es ging ab und versuchte in der Dunkelheit einen Schatten oder irgendwas in der Art zu erahnen. Meine Schritte knirschten zu laut auf dem groben Schotterweg, hin zu meinem Auto. Ich rutschte weg. Ich fiel. Ich stürzte zu Boden. Ein dumpfer Knall. Mein Kopf schmerzte. Plötzlich, Dunkelheit. Nichts. Ich spürte die Kälte nicht mehr. Ich hörte nichts. Ich fühlte mich gelähmt, konnte mich nicht bewegen.
© Lea Chantal Ruff 2024-08-31