Kapitel 1 – Ein seltsamer Fall

Elisa Thanner

von Elisa Thanner

Story

Kapitel 1 – Ein seltsamer Fall

Mit zusammengezogenen Augenbrauen und skeptischem Blick beuge ich mich ein Stück weiter hinunter zu dem auf einem Edelstahltisch gebetteten Körper.

„Würdest du das wiederholen?“, bitte ich den in einem schwarzen Anzug gekleideten Mann, der mit verschränkten Armen direkt hinter mir steht.

„Der Name der Toten ist Melanie Adler, 28 Jahre alt, Todesursache Suizid durch Erhängen “, liest er erneut von dem leicht zerknitterten Blatt Papier ab, das er in der Hand hält.

„Und sie hatte nur das an?“, frage ich ungläubig und deute mit dem Finger auf die tote Frau, die nur mit einem schwarzen Slip und offener Bluse bekleidet vor mir liegt. „Also ich werde sie auf dem Weg hierher wohl nicht ausgezogen haben. Wieso, stimmt etwas nicht?“, erwidert er leicht genervt.

„Ich frage ja nur „, antworte ich leise, während ich das linke Ohrläppchen der Toten betrachte, durch das sich vertikal ein blutiger Riss zieht. In dem anderen hingegen steckt ein kleiner, goldener Ohrring, auf dem eine winzige Perle sitzt.

„Brauchst du mich dann noch oder kann ich nach Hause gehen?“

Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen drehe ich mich zu meinem Mitarbeiter um, bevor ich ihm antworte, dass er beruhigt Feierabend machen kann. Nachdem ich mir die durchsichtige Plastikschürze angelegt und meine langen, roten Haare mit einem geübten Griff zusammengebunden habe, streife ich mir die gelblichen Latexhandschuhe über. Meine Absätze klacken bei jedem Schritt über den weiß, gefliesten Boden, während ich um den Edelstahltisch herumgehe. Behutsam entkleide ich den zierlichen Körper, dessen Haut bereits einen fahlen, gräulichen Ton angenommen hat. „Dann wollen wir dich mal hübsch machen für deine letzte Reise „, flüstere ich und beginne mit der Totenwäsche. Als das warme Wasser über die aschblonden Haare prasselt, spüre ich plötzlich einen Ruck, der durch den Leichnam geht. In dem Augenblick, in dem Melanie ihre Augen öffnet, schnellt ihre Hand hoch und legt sich mit eisernem Griff um mein Handgelenk.

„Hilf mir!“

Der Schrei, der aus ihrem weit aufgerissenen Mund kommt, hallt laut von den gekachelten Wänden wider. Plötzlich öffnet sich die Tür des Vorbereitungsraums.

„Hey Marie, ich bin es nochmal. Ich wollte nur… alles in Ordnung?“ Mein Blick huscht zwischen Nico, der mich mit einer hochgezogenen Augenbraue unsicher ansieht, und der Toten, die mit geschlossenen Augen regungslos daliegt, hin und her. „Nein, ich denke nicht. Ruf die Polizei an, die sollen bitte jemanden zu uns in das Bestattungsinstitut schicken. Ich habe den Verdacht, dass wir hier keine Selbstmörderin, sondern ein Mordopfer vor uns haben „, fordere ich Nico auf. Mit einer nervösen Geste fährt er sich durch das dichte, dunkle Haar, bevor er meiner meiner Bitte nach kommt und mit seinem Handy die Nummer des örtlichen Polizeireviers anwählt. Während er telefoniert, Blicke ich hinunter auf das zu einer Totenmaske versteinerte Gesicht von Melanie Adler.

© Elisa Thanner 2022-04-02

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