Kapitel 1: Zu viel Frida

Katrin Nielsen

von Katrin Nielsen

Story

Frida spürte kaum den harten Fußboden, auf dem sie im Schneidersitz saß. Den Blick konzentriert auf die Wand vor sich gerichtet, versuchte sie, einen klaren Gedanken zu fassen. Rastlos wanderten ihre Augen über die Bilder, die jeden Zentimeter der gemusterten Tapete bedeckten. Fast alle davon hatte sie selbst gemalt. Dazwischen hingen Postkarten von Orten, die sie mit ihrer Mutter besucht hatte, Eintrittskarten und allerlei anderer Kram. Sie betrachtete die Wand wie eine Zeitreise durch vierzehn Jahre ihres Lebens. Normalerweise half ihr das, zur Ruhe zu kommen, wenn sie aufgewühlt war.

Das erste Bild bestand aus kaum mehr als ein paar Strichen, doch ihre Mutter hatte es stolz mit „Frida, 1 Jahr“ beschriftet. Ihre Mutter war schon damals der Überzeugung gewesen, dass Frida ihrem Namen alle Ehre machen würde. Doch in der Schule brachte ihr dieser nur Spott und Demütigungen ein. Aus „Frida-Freude-Eierkuchen“ wurde „Frikadelle“, dann „Fritten-Frida“ und jetzt: „Freaky Frida“. Wie man auf die ersten drei Spitznamen gekommen war, wusste sie nicht. Man hätte meinen können, dass sie den ganzen Tag nur am Essen war, doch eigentlich war eher das Gegenteil der Fall. Die Hänselei hatte dazu geführt, dass sie nur noch aß, wenn sie sich absolut unbeobachtet fühlte.

Für „Freaky Frida“ konnte sie sich bei ihrem Kunstlehrer bedanken. Er war ein alter Künstlerfreund ihrer Mutter und auch wenn sie ihn privat bei seinem Vornamen nennen durfte, hielten sie sich in der Schule an die formelle Ansprache „Herr Kiesel“. Vielleicht war es eine dieser gut gemeinten „pädagogischen Ideen“ gewesen, die Lehrer manchmal plötzlich haben. Vor ein paar Wochen beschloss er jedenfalls, Referate an die stillen Schülerinnen und Schüler zu verteilen.

„Bei dem Talent, mit dem hier so mancher gesegnet ist, wäre es eigentlich eine Schande, keine Eins in Kunst zu haben. Aber wenn man sich so gar nicht an den Unterrichtsgesprächen beteiligen mag …“ Sein Blick verharrte unangenehm lange auf Frida, als würde er sie durch Gedankenkraft dazu bewegen wollen, wie Katniss Everdeen vorzupreschen und zu verkünden: „Ich melde mich freiwillig!“

Never! Frida tat gekonnt so, als wäre sie in die Arbeit an ihrer Collage vertieft und rutschte in ihrem Stuhl ein wenig weiter nach unten. Nach ihrer Namenstaufe auf „Fritten-Frida“ war es ihr irgendwann gelungen, beinahe unsichtbar zu werden. Sie war nicht die Art von Mädchen, die keiner mochte, sie war eher die, an die nie jemand dachte. Die, die immer vergessen wird bei der Einladung zu Geburtstagen oder zu sonstigen Treffen. Die, bei der keiner bemerkte, wenn sie mal ein paar Tage wegen Krankheit fehlte. Doch Frida war fein damit, eine Einzelgängerin zu sein. Wenn sie keine Aufmerksamkeit auf sich zog und unter dem Radar blieb, fühlte sie sich am wohlsten. Aber heute ging ihre Strategie nicht auf.

„Frida? Wie wäre es denn mit dir?“, fragte Herr Kiesel. „Naa …“, war alles, was er aus ihr herausbekam. „Du teilst deinen Namen mit einer der bemerkenswertesten Künstlerinnen des letzten Jahrhunderts … wie wäre es, wenn du eine Präsentation über sie und ihr Werk hältst?“ 

© Katrin Nielsen 2024-07-31

Genres
Romane & Erzählungen