von Loana Lehmann
Dieser Ausdruck in seinen Augen, als er erfährt, dass ich mir das Leben genommen habe, ist phänomenal. Ich muss fast ein wenig lächeln.
»Ihre Nummer war die Letzte, die sie vor dem Unfall wählte«, erzählt ihm der Polizist am anderen Ende der Leitung. Diese Information scheint ihn endgültig zu brechen. Er lässt sich langsam auf die Knie sinken, schlägt sich die Arme vor das Gesicht und fängt bitterlich an zu weinen. Und ich kann alles beobachten. Es ist, als hätte ich den unsichtbaren Tarnumhang aus Harry Potter geschenkt bekommen, um jeden betrachten zu können, der um mich trauert. Doch bin ich ehrlich, interessiert mich nur eine Person: Er.
*
»Haley, du kommst zu spät!«, höre ich meine Mutter aus der Küche rufen.
Ich stürme aus dem Zimmer, einen Schuh bereits angezogen, den anderen noch immer in der Hand. Meine Jacke und meine große braune Lieblingstasche hängen achtlos über meinem Arm. Meine langen blonden Locken stehen in alle Richtungen ab. Leider ist Bürsten ebenfalls keine Option, wenn ich nicht aussehen will, als hätte ich in die Steckdose gegriffen. Ich hasse den Morgen. Und wenn es wie heute sogar ein Montagmorgen ist, hasse ich ihn noch mehr. Ich gehe zu meiner Mutter in die Küche und ziehe mir im Laufen den anderen Schuh an.
Sie schaut mich belustigt an, schüttelt nur den Kopf und reicht mir einen Kaffee mit extra viel Milchschaum. So, wie ich ihn liebe.
»Du bist die Beste.«, bringe ich gehetzt hervor.
»Hab dich lieb.«, lächelt sie.
»Bis zum Mond und wieder zurück.«, erwidere ich beim Verlassen der Küche. So viel Zeit muss sein.
Seit ich klein war und sie mir zum Einschlafen aus dem Buch: `Weißt du eigentlich, wie lieb ich dich hab?` vorgelesen hat, ist dies unsere Antwort auf ‚Hab dich lieb‘.
Ich renne die Treppe herunter zu meinem Auto, welches in der Einfahrt parkt. Ich hole mein Handy aus der Tasche und tippe die Adresse des Fitnessstudios ein, in dem ich unter anderem arbeite. Nicht, weil ich den Weg nicht in- und auswendig kenne, sondern um den Verkehr zu checken.
Die Ankunftszeit ist 7:04 Uhr. Um 7:00 Uhr muss das Fitnessstudio aufgeschlossen sein und – warum auch immer – sind die meisten Kunden im Regelfall schon um 06:55 Uhr vor Ort. Wie man so etwas freiwillig machen kann, bleibt mir ein Rätsel. Ich kann nur hoffen, heute auf wohlgesonnene Mitglieder zu treffen, die mir meine kleine Verspätung verzeihen und vor allem nichts meiner Chefin verraten würden.
Sobald ich jedoch erzähle, im Restaurant bis spätabends Schicht gehabt zu haben, sind die meisten Menschen mir gegenüber netter eingestellt. Und dabei ist es noch nicht einmal gelogen. Meine Schicht im „Paradise“ endet sonntags erst um 23:30 Uhr.
Aber was macht man nicht alles für seinen Traum, Schauspielerin zu werden?
Die beste Schauspielschule in Deutschland ist leider eine private und quasi unbezahlbar. Doch noch mehr als den Montag hasse ich 9 to 5 Jobs. Deswegen werde ich dafür kämpfen, meinen Traum zu verwirklichen. Selbst wenn ich bis dahin 24/7 arbeiten muss.
Ich schließe mein Handy noch schnell an das Aux-Kabel in meinem Auto an, öffne meine Playlist ‚Obsolet‘ und drücke auf Shuffle. 99 Probleme von Madeline Juno dringt durch die Boxen. Ich lächle. Wie passend.
© Loana Lehmann 2024-08-12