Kapitel 10 – Durchatmen

Kaycee Hesse

von Kaycee Hesse

Story
Saint-Brieuc, Frankreich

Ich saß am Strand, den Blick starr aufs Meer gerichtet. Die salzige Brise fuhr mir angenehm kühl durch mein kurz geschnittenes Haar. Die Sonne hing bereits recht tief am Himmel und beleuchtete die Wolken in einem leichten Orange. Ich wusste jetzt schon, dass die nächsten Nächte für mich die Hölle werden würden, dafür verfluchte ich Faye. Manches Grauen blieb besser unerzählt. Hinter mir hörte ich sich nähernde Schritte. Ava blieb direkt neben mir stehen, ihren Blick ebenfalls vor uns auf die schäumenden Wellen gerichtet.
»Jetzt steh da nicht so nutzlos rum, sondern hilf mir mal lieber«, sagte ich schroff. Ich ließ mir von ihr aus dem Rollstuhl helfen und hinunter in den Sand, der sich vor uns erstreckte. Ich setzte mich und vergrub meine Stümpfe darin.
»Eine der Sachen, die ich am meisten vermisse, weißt du? Das Gefühl von warmem Sand zwischen den Zehen.« Ich lächelte melancholisch.
»Hm«, machte sie und ließ sich neben mich sinken. »Ich vermisse am meisten überhaupt irgendetwas zu fühlen. Es ist alles so leer, wie ausgehöhlt seit…«
»Seit du deine Mutter getötet hast«, sprach ich es für sie aus. Ava zog die Beine fest an sich.
»Bei dir war es ein Versehen, das ist was anderes.« Ich wollte erwidern, dass Absicht oder nicht überhaupt keine Rolle spielten. Tot war tot, egal wie oder weshalb. Doch sie redete bereits weiter.
»Ich kannte sie überhaupt nicht wirklich. Meine Mutter hatte sich den Jägern angeschlossen, mich gefangen gehalten und gefoltert.« Ich sog scharf die Luft ein.
»Ich konnte fliehen und habe sie alle getötet. Ich habe so viele umgebracht! Mit voller Absicht.« Ihr entfuhr ein heftiges Schluchzen. Der Abscheu, den sie sich gegenüber empfand, versetzte mir einen schmerzhaften Stich.
»Was für ein Monster tut so etwas?«
Eine einsame Träne floss ihre Wange herunter.
»Du hast getan, was du tun musstest«, erwiderte ich. Es änderte nichts, das wusste ich. Dennoch. »Wir dürfen uns nicht nur an unseren dunkelsten Taten messen. Wir müssen auch unsere Hellsten bedenken.«
Sie drehte den Kopf und sah mich über die Schulter hinweg forschend an.
»Das ist Fayes Spruch«, stellte sie fest.
»Ja, das hat sie früher auch schon gesagt. Ausnahmsweise hatte sie mal recht.« Sie lächelte zögerlich. Ich erwiderte es, musste dabei aber immer wieder auf ihre Schulter schielen.
»Sag mal, warum sieht mich deine Tattoo-Schlange eigentlich die ganze Zeit schon an, als wolle sie mich zum Abendessen verspeisen?«
Mir war schon aufgefallen, dass sich Avas Tattoo zu bewegen schien, immer wenn man nicht hinsah, aber so auffällig wie jetzt, jagte es mir unwillkürlich einen Schauer über den Rücken.
»Oh, entschuldige.« Avas Lächeln wurde breiter. »Das ist Mina, sie ist Teil meiner Fähigkeit.« Ich beobachtete, wie die Schlange mich von unter Avas Haut anzüngelte.
»Das ist gleichzeitig super cool und super gruselig«, meinte ich schließlich. »Spürst du es, wenn sie sich bewegt?«
»Ja, es kitzelt ein wenig«, antwortete sie grinsend. Ich schüttelte amüsiert den Kopf.
»Naja, langweilig bist du jedenfalls nicht«, meinte ich und hievte mich schwerfällig wieder zurück in den Rollstuhl. Ich klopfte mir den Sand von den Klamotten, dann machte ich mich auf den Weg zurück zur Wohnung und ließ Ava mit ihren Gedanken allein.

© Kaycee Hesse 2023-08-30

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Abenteuerlich, Emotional, Dark
Hashtags