von Vivien Förster
Den Rest des Weges zu unserem Wohnblock gingen Ari und ich Arm in Arm. Ich fühlte mich hellwach, obwohl es Mitten in der Nacht war, und ich wusste nicht, ob es an dem Jungen neben mir lag oder an der Tatsache, dass ich eingebrochen und von der Regierung gestohlen hatte. Die Strafe für meine Handlungen war lebenslange Haft und sozialer Dienst. Bei dem Gedanken erschauerte ich und Ari zog mich dichter an sich. Wir redeten nicht, doch es war keine unangenehme Stille. In der letzten Stunde war so viel passiert, sodass uns beiden die Ruhe nichts ausmachte. Im Gegenteil, wir hießen sie willkommen.
Im stillen Einvernehmen nahmen wir den Aufzug bis zur Dachterrasse. Es war Frühling und die Luft nachts beißend kalt, besonders zu dieser späten Stunde, doch ich spürte die Kälte kaum. Ich fühlte mich als könnte ich die Welt erobern. Oder vielleicht hatte ich das auch gerade. Ich zog die Dokumente aus meiner Tasche und betrachtete sie. Ich atmete tief ein, auf einmal schien das Adrenalin verschwunden und ich spürte bloß Nervosität. Ich hatte nicht genug Zeit gehabt, sie mir im Tresorraum anzuschauen. Ich warf Ari einen kurzen Blick zu, der mir ein aufmunterndes Lächeln schenkte. Als er bemerkte, dass ich ihn ansah, griff er nach meiner freien Hand und nahm sie in meine. Zusammen schauten wir auf das Zeichen der Pariser Regierung, das uns anlächelte. Ich starrte es an, unfähig das Dokument aufzuschlagen Ari drückte meine Hand: „Alles in Ordnung?“ Ich schluckte und lehnte meinen Kopf an seine Schulter: „Ich weiß nicht, ob ich das kann, Ari. Guck du zuerst.“ Er sah mich für einen Moment bloß überrascht an. „Bist du sicher?“, fragte er dann. Ich nickte und er nahm mir die Dokumente aus der Hand. Er hielt sie als wären sie das wertvollste was er je in den Händen gehalten hatte, was vermutlich auch der Wahrheit entsprach.
Mit jedem Moment, der verging, sah ich wie Aris Stirn sich weiter zusammenzog. Ich konnte nicht erkennen, was ihn so zu verunsichern schien und ich musste mich zwingen Aris Arm nicht mit einem Klammergriff zu umfassen. „Was ist los?“, fragte ich leise. Ari sah nicht einmal zu mir auf, er schüttelte bloß den Kopf. Immer wieder und immer wieder. „Was ist los, Ari?“, meine Stimme war dieses Mal drängender. Irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas war falsch. Ich nahm Ari die Dokumente aus der Hand und zwang ihn mich anzusehen. „Was. Ist. Los.“, sagte ich langsam und sah Ari in die Augen. Er sah mich an und sog zitternd die Luft ein, ich meinte etwas in seinen Augen schimmern zu sehen, doch er wandte den Blick schnell wieder ab. Dann nahm er beide meine Hände in seine und atmete tief ein. „Das sind keine Listen der Verbliebenen, Cam. Es gibt keine anderen verbliebenen Städte. Paris ist das Einzige, das übriggeblieben ist.“ Endlich sah er mich doch an: „Es gibt nur noch uns.“
© Vivien Förster 2022-09-01