Kapitel 11 – Sehnsucht

Lea Chantal Ruff

von Lea Chantal Ruff

Story

Mir fiel auf, dass ich mich leichter fühlte, weniger von Schmerz erfüllt. Ich hatte das Gefühl, ich würde meine Traumata heilen, indem ich die Traumata fremder Menschen fühlte und durch diese hindurchging. Es fühlte sich an, als würde ich von Nacht zu Nacht stärker werden. Heute ertappte ich mich zum ersten Mal dabei, wie in mir so etwas wie Hoffnung aufkam. Es war nur ganz kurz, aber es war da, bevor es wieder von der Wut überschattet wurde. Wut darüber, warum niemand mir half. Warum ich weiterhin auf mich gestellt war. Aber wahrscheinlich war das einfach mein Leben. Das Leben einer Einzelgängerin, die nachts wirres Zeug erlebte, weil sie so viele Traumata hatte, dass sie diese nur durch kranke Träume auflösen konnte. In der Nacht stellte ich mich schon darauf ein, was passieren würde, und es kam, wie es kommen musste. (To-do: zum Schlafengehen ein Cape tragen, dann wäre ich im Traum wenigstens gekleidet wie eine Superheldin – oder lieber nicht, das wäre wahrscheinlich lächerlich)

Heute sah ich eine Frau im Spiegelbild, schätzungsweise Mitte bis Ende 40. Sie hatte eine dunkle Dauerwelle und ihr Gesicht war geziert mit einigen Fältchen. Sie wirkte besorgt. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, außer die Phiole zu nehmen und zu öffnen. So hatte ich es bisher immer gemacht, bei jedem einzelnen Spiegel, und mittlerweile erschien es mir beinahe richtig. Es fühlte sich an wie eine Bestimmung oder eine Gabe, auch wenn ich viel lieber fliegen wollen würde oder mich unsichtbar machen. Aber man nimmt, was man kriegen kann. Das lilafarbene Pulver strömte aus der Phiole hinaus und ergoss sich über mir, beinahe wie ein Regenschauer. Es fühlt sich kalt und nass an und irgendwie seltsam rutschig. Das Erste, was ich sah, war die Hand einer Frau, die Nägel vorne zerkaut, und der Nagellack war bereits an vielen Stellen abgeplatzt. Am Ringfinger bemerkte ich eine leichte Einkerbung, als wäre dort bis vor Kurzem ein Ring gewesen. Ein Ehering. Mein Ehering. Ich sah ein Bild von einer Familie. Darauf erkannte ich mich, wie ich einen gutaussehenden, dunkelhaarigen Mann küsste. Auf seinen Schultern saß ein kleines Mädchen, vielleicht 4 Jahre alt. Vor meiner Brust, in einer Stofftrage, war ein kleines Würmchen – noch ein Mädchen. Wir sahen glücklich aus. Das Bild änderte sich, die Personen wurden vor meinem inneren Auge älter. Der Mann verblasste komplett und die Töchter standen mit dem Rücken zu mir da. Sie schauten weg, zum Platz, wo einst der Vater war. Aus dem Nichts fühlte ich mich leer und unsagbar einsam. Dazu hatte ich das Gefühl, ich würde erdrückt werden. Ich hörte Wortfetzen. „…das Haus verkaufen…“ / „…wenn das so weiter geht, muss ich Ihnen die Wohnung kündigen…“ / „…die Kinder kommen zu mir, was kannst du ihnen schon bieten?“ Und da spürte ich, dass es stimmte, ich konnte ihnen gar nichts bieten. Ich hatte eine winzige Wohnung und mein geringes Geld reichte kaum für die Miete. Es war eher eine lockere Idee, als ich den Zettel fand, auf dem die Ausschüttung meiner Lebensversicherung stand. Ich war also anders mehr wert als lebendig. Auf einmal waren vor mir Berge und unter meinen Füßen knirschte feiner Schnee. Es sollte aussehen wie ein Wanderunfall. Bis man mich finden würde, wäre ich erfroren. Ich stand an einer steileren Klippe und schaute hinab. Ich trug dünne Kleidung, eine Jacke, die kaum warm hielt, und Sneaker mit einer durchgelaufenen Sohle.

© Lea Chantal Ruff 2024-08-31

Genres
Science Fiction & Fantasy
Stimmung
Herausfordernd, Dunkel, Emotional, Hoffnungsvoll, Mysteriös
Hashtags