Kapitel 12

Katja Zelenka

von Katja Zelenka

Story

Anna stieg nach vorne auf den Fahrersitz und richtete sich das Cockpit und die Spiegel ein. Auf der Windschutzscheibe links außen hing an einem Saugnapf ihre Rettung: Zlatans Navigationsgerät. Zwar gab es in diesem Wald keinen Empfang, aber irgendwie würden sie schon hier herausfinden. Dafür, entschied sich Anna, würde sie dem Pfad vor ihr folgen, irgendwann musste doch eine Straße kommen. Die Wildschweine waren mittlerweile gelangweilt von dem fremden, blechernen Objekt und hatten nun angefangen vor dem Auto nach Nahrung zu wühlen. Für eine erfolgreiche Weiterfahrt musste diese Idylle unterbrochen werden. Anna drückte lang und kräftig gegen die Hupe. Aufgeschreckt sahen die wilden Tiere hoch in Richtung Auto. Erst als sie den Zündschlüssel umdrehte und den Wagen langsam in Bewegung setzte, begab sich die Rotte tiefer in den Wald hinein. Das Auto bewegte sich vorsichtig den Pfad entlang. Um bessere Sicht zu erlangen, schaltete Anna das Fernlicht ein. Tatsächlich war an diesem Weihnachtsabend ganz schön viel los im Wald. Links und rechts von ihnen, spiegelten sich mehrere, verschieden hohe Augenpaare im gleißenden Scheinwerferlicht. Wahrscheinlich waren es Rehe. Dem schmalen Trampelpfad folgend kamen sie nun zu einem breiteren Forstweg. Anna blickte sich um, hielt Ausschau nach möglichen Hindernissen und folgte dem Forstweg nach links. Das Auto rumpelte unter ihnen, geräuschvoll wie ein Mahlwerk. Zlatan saß mit ausdrucksloser Miene am Beifahrersitz. Monoton fragte er nun: „Wohin fahren wir?“. Aus dem Augenwinkel warf Anna einen flüchtigen Blick auf ihn und antwortete mit ruhiger Stimme: „Wir fahren nach Hause, Zlatan“. „Und wo ist Mari?“, sah er sie nun erstaunt an. Anna versuchte die Stimmung zu halten und versicherte ihm, dass seine Frau zu Hause war. „Und wer bist du?“, sah er die junge Frau am Steuer verunsichert an. „Ich bin Anna“, erklärte sie ihm ruhig, „wir fahren gemeinsam nach Wien“. „Aber WER bist du?“, betonte er seine Frage erneut in ungewöhnlich hoher Tonlage. Irritiert verzog Anna ihr Gesicht und versuchte sich weiter auf den Weg vor ihr zu konzentrieren. Noch immer im Wald tat sich vor ihnen eine befestigte Straße auf. Die meisten Leute in dieser verschlafenen Gegend waren vermutlich bereits zu Hause und bereiteten sich auf den Weihnachtsabend vor. Auf dieser kleinen Landstraße war niemand zu sehen. Mit einem Schwenk nach rechts fuhr das Auto weiter. Links und rechts von ihnen fuhren sie an blattlosen Böschungen, hochgewachsenen Nadelbäumen, einzelnen beleuchteten Häusern und dem örtlichen Schützenverein vorbei. Zlatan sah gespannt aus dem Fenster. Scheinbar gefiel ihm was er sah. Erfreut frage er Anna: „Weißt du wie ich das finde?“. Als Anna einen flüchtigen Blick zu ihm hinüberwarf, verzog er sein Gesicht zu einer Grimasse, streckte lautlos seine eingerollte Zunge heraus und verfiel in schallendes Gelächter. Dieser Mann neben ihr war nicht einzuschätzen, dennoch wirkte er auf Anna nicht bedrohlich. Er wirkte wie jemand, der nicht wusste, wer er war. Wenngleich er in diesem Moment nicht ganz bei sich war, versuchte er sie zumindest aufzuheitern. Trotz all der Anspannung, die Anna durch den Körper fuhr, trotz all der Müdigkeit – oder vielleicht auch gerade deswegen – konnte sie in diesem Augenblick nur mit ihm mitlachen.

© Katja Zelenka 2023-08-31

Genres
Romane & Erzählungen