Kapitel 1.2 – Schatten

Exlibres

von Exlibres

Story

Als sie die Tür schlossen, verblasste die Ausgelassenheit der Feier. Sally in Finns Arme. Ihr Atem ruhig und gleichmäßig. Sie standen da, eingehüllt in Stille. Ihre Stirn an seiner Brust, seine Hände glitten über ihren Rücken. Die Hochzeitsnacht war still und zärtlich, voller Vertrautheit. Es gab keine Eile, nur Nähe und das Gefühl, dass alles in diesem Moment richtig war. Die nächsten Tage verbrachten sie in völliger Abgeschiedenheit. Ihre Flitterwochen führten sie durch Irlands grüne Landschaft, durch kleine Dörfer und zerklüftete Küsten. Hand in Hand wanderten sie über weite Felder. Manchmal sogar bei Sonnenschein. Es waren unbeschwerte Stunden. Die Zeit schien beinahe stillzustehen. Doch die Freude war nicht vollkommen. Manchmal, wenn sie durch ein Dorf spazierten oder am Meer saßen, spürte er dieses Ziehen in der Brust. Ein Schatten, der sich nicht erklären ließ, aber da war. Wartend. Lauernd. Sie fuhren über enge Küstenstraßen, hoch über dem Wasser. Die Sonne stand tief. Da zerriss plötzlich ein Krachen die Stille. Reifen quietschten. Keine Kontrolle mehr. In einem einzigen Herzschlag riss das Lenkrad aus seinen Händen. Das Auto schlingerte, schleuderte gegen die Leitplanke. Ein Krachen. Sekunden dehnten sich. Sallys Blick: erschrocken. Dann zog das Auto abermals ruckartig zur Seite. Das Fahrzeug kam mit einem letzten Knirschen zum Stillstand, halb über dem Straßenrand, der Abgrund unter ihnen. Finns Hände umklammerten das Lenkrad, seine Knöchel weiß vor Anspannung. Für einen Moment schien die Welt stillzustehen, gefangen in einem gespenstischen Schwebezustand. „Sally?“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, voller Angst. Keine Antwort. Sein Herz raste, er drehte sich zu ihr. Panik in seinem Kopf. Sie lehnte gegen ihr Fenster. Augen geschlossen, das Gesicht fahl im Abendrot. „Sally!“ Diesmal lauter, dringender. Keine Regung. Er beugte sich über die Mittelkonsole, griff nach ihr. Seine Finger zitterten, als er ihre Hand umklammerte. Ihr Körper blieb reglos. Das Zittern wurde stärker. Und der stechende Schmerz in seiner Brust kehrte zurück, heftiger als je zuvor. Er wusste nicht, wie lange er so da saß, den Atem angehalten, starr vor Unglaube. Die Dunkelheit kroch heran, hüllte die zerbrochene Welt in schwere Stille. Sally war fort. Die Zukunft, eben noch voller Leben und Versprechen, lag in Scherben. Finn saß in der Dunkelheit, sein Atem flach und unregelmäßig. Die Realität drückte auf seine Schultern, während er neben Sallys reglosem Körper verharrte. Jeder Moment zog sich quälend, während er versuchte zu begreifen. Ihr blasses Gesicht war ihm so vertraut. Jetzt wirkte es fremd, nur noch eine kalte, bleiche Maske. Er wusste, dass er sich bewegen, dass er etwas tun musste. Aber sein Körper gehorchte nicht. Ein Schrei formte sich in seiner Brust, er blieb jedoch stumm. In seinen Gedanken nur ein einziges Wort: Warum? Grelle Scheinwerfer rissen ihn aus der Starre. Er blinzelte. Zwang sich zum Atmen. Alles fühlte sich taub an. Die Realität war nicht mehr greifbar. Er hielt sie immer noch fest, als könnte er sie durch Willenskraft zurückholen. Doch ihre Finger blieben kalt. Finn wusste, dass die Welt sich weiter drehen würde. Noch mehr Menschen würden kommen. Würden sie ihm wegnehmen. Auch wenn er sich dagegen sträubte. Ein Feuerwehrmann klopfte an die Scheibe. „Sind Sie verletzt?“ fragte er ruhig. „Ich…“ Er brach ab. „Wir hatten einen Unfall… meine Frau ist…“ Er sprach nicht weiter. Wollte es nicht wahr machen. Er schwieg.

© Exlibres 2025-05-25

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Dunkel, Emotional, Mysteriös, Traurig, Angespannt
Hashtags