Kapitel 17: Leere Bilder

Wolfgang Rauh

von Wolfgang Rauh

Story

Meine Augen gewöhnen sich an das schlechte Licht. Der Wanderer ist nicht schwer, aber dieser Eindruck kommt vom Adrenalin, nicht meiner Kraft. Hinter mir höre ich Stimmen und immer noch Schüsse. Sind sie schon beim Lager? Wieviel Vorsprung haben wir?

Die Sonne geht auf. Ich rieche den Ozean, bevor ich ihn sehe.

Wir brechen durch die letzten Sträucher. Ein schmales Stück Strand. Dahinter Wellen, dunkel und abweisend, aber unsere einzige Chance. Da ist sein Kanu. Auf die Seite gedreht und an Land gespült. Ich setze ihn ab, drehe es um und schiebe es zum Wasser.

Er ist immer noch zu schwach, um selbst zu gehen, aber ich trage ihn, ein letztes Mal, setze ihn ins Boot und stoße uns ab. Das Wasser ist kalt und füllt augenblicklich meine Schuhe, aber das macht nichts, denn hinter uns peitschen immer noch Schüsse durch den Wald.

Das Festland wirkt nah, die Strömung ist auf unserer Seite. Meine Arme protestieren, aber ich gebe ihrem Wunsch nach einer Pause nicht nach. Schüsse schlagen neben uns ins Wasser. Dann blendet mich etwas. Nicht die Sonne. Ein Scheinwerfer.

Das Fischerboot bringt uns an Land, wo bereits Rettungsmannschaften warten. Jetzt, wo alles zu Ende geht, kommt der Schwindel zurück, und die ignorierten Schmerzen holen nach, was ich ihnen an Aufmerksamkeit verwehrt habe. Eine Spritze. Beruhigende Stimmen reden mit mir. Ich lasse mich in die Sicherheit ihrer Verantwortung fallen und bin froh, nicht mehr laufen und paddeln zu müssen, während ich gleichzeitig Angst davor habe, einzuschlafen und im Wald wieder aufzuwachen.

Aber es ist ein Krankenzimmer, in dem ich zu mir komme. Wieder bekomme ich Besuch. Kein Bär, sondern die Eltern des Wanderers. Sie bedanken sich, dass ich den Körper ihres Sohnes zurückgebracht habe, und ich verstehe nicht.

Es gab eine Autopsie. Er war lange tot, bevor ich ihn gefunden habe. Ich verstehe immer noch nicht. Niemand spricht von Verfolgern. Niemand spricht von Schüssen. Niemand spricht von einem Bären.

Mein Fieber ist nicht mehr so hoch wie bei meiner Einlieferung, aber hoch genug für weiteren Schwindel. Ich habe Angst. Vor dem Einfluss, den der eigene Verstand auf die Wahrnehmung der Realität haben kann? Oder davor, dass mir keiner glaubt?

Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass wir manchmal vergessen, wie schlimm die Dinge waren. Ich weiß, dass das Kribbeln zurückkehren wird.

Und vielleicht habe ich davor am meisten Angst, denn Bilder transportieren weder Angst, noch Schmerzen – nur den Traum.


© Wolfgang Rauh 2025-02-12

Genres
Spannung & Horror