von I_love_books
Ich schaute mich um und sah erst jetzt, dass neben mir ein Mann eingehüllt in einen Schlafsack lag und wohl geschlafen hatte. Zitternd richtete sich der ca. 55 Jahre alte Mann mit den grau-braunen Haaren, der offensichtlich ein Obdachloser war, auf und schüttelte sich den Schnee vom Leib. Ich dachte, er würde sauer sein, doch zu meiner Verwunderung schaute der Mann mich nur an, aber sagte nichts. So saßen wir einige Zeit schweigend nebeneinander und starrten auf den zugefrorenen See. Plötzlich schreckte ich zusammen, denn ich hörte ein Zug in den nahen Bahnhof einfahren: „Ich muss los“, sagte ich ungeplant laut, „Ich wollte doch den 8:06 Uhr Zug nehmen.“ „Wo müssen sie denn hin?“, fragte der Mann,“ Oder erwarten sie jemanden?“ „Nein“, antwortete ich, „Ich muss nirgends mehr hin und erwarte auch keinen mehr.“ Der Mann sah mich etwas verdutzt an und bot mir eine Ecke seines Schlafsackes an:“Dann bleiben Sie doch bitte noch, und leisten mir Gesellschaft.“ Ich war mir unsicher, versuchte zu Lächeln, doch blieb auf der Bank sitzen und legte die Ecke des Schlafsackes über meine Beine.
In meinem Kopf schwirrten Fragen herum: War es richtig, hier sitzen zu bleiben? Ich wollte doch genau den Zug nehmen. Doch es fühlte sich falsch an, jetzt einfach aufzustehen und zu gehen. Dieser Mann er hatte außer seinen wenigen Sachen, die in einem Einkaufstrolley steckten, sicherlich nichts. Sicherlich hatte er auch keine Familie oder Freunde mehr, denn sonst wäre er bestimmt nicht auf der Straße gelandet. Er schaute noch etwas verschlafen, aber zufrieden auf die vom Himmel fallenden Schneeflocken. Wieso? Wieso hat dieser Mann wahrscheinlich nichts mehr und war zumindest im Moment zufrieden? Woher haben solche Menschen die Motivation weiterzuleben?
„Der erste Schneefall war für mich schon immer was ganz Besonderes.“ ,Sagte der Mann,“ es hat etwas Magisches an sich, finden sie nicht auch?“ Ich nickte, aber blieb stumm. „Entschuldigen sie, aber ich muss los!“ „Wollen sie nicht noch kurz hier bleiben? Wo hin müssen sie überhaupt so früh?“ „Ich muss zum Zug“ „Wissen sie…“, sagte der Mann,“ ich weiß vielleicht nicht, wie sie sich gerade fühlen, aber ich weiß, dass es Menschen gibt, die sie sehr vermissen werden! Und ich kenne sie zwar auch nicht, aber ich weiß, dass sie ein ganz wundervoller Mensch sind, der sehr viele Talente hat und von mehr Menschen geliebt wird als er denkt. Und auch wenn ich nicht weiß, was in ihrem Leben gerade los ist, weiß ich, dass es auch besser werden kann. Bitte passen Sie auf sich auf!“
Woher wusste der Mann, was ich vorhatte? Plötzlich hatte ich Zweifel, ob es das richtige war, sich das Leben zu nehmen. Ich spürte einen komischen Schmerz, den ich nicht beschreiben konnte. Am liebsten hätte ich auf der Stelle angefangen zu weinen, ich hätte gerne jemand gehabt den ich um Rat fragen könnte, jemand der mich versteht und einfach zuhört ohne darüber zu urteilen
© I_love_books 2025-03-08