Kapitel 2 – freitags Morgen

Amelie Crombach

von Amelie Crombach

Story

Yasmin hatte erst um halb 4 Uhr morgens ihrem PC heruntergefahren und war schlafen gegangen. Während sie mit den anderen herumgealbert und irgendein MOBA-Game gezockt hatte, hatte sie garnicht bemerkt wie schnell die Zeit vergangen war. Jetzt merkte sie die kurze Nacht dafür umso deutlicher. Ihr Kopf summte ein wenig. Als sie sich aufsetzte, knackte ihr Nacken zudem laut. Noch mehr sah sie den wenigen Schlaf. Die Augenringe lagen wie schwarze Blutergüsse unter ihren Augen. Außerdem war ihre generell sehr helle Haut heute nahezu weiß. Sie wäre die perfekte Besetzung für eine Leiche, ging es ihr durch den Kopf. Aber das war nichts, was man nicht mit Make up verstecken konnte. Und gegen den Rest halfen Aspirin und Kaffee. Eine halbe Stunde später fühlte Yasmin sich um einiges besser. So konnte sie unter Menschen gehen.

 Für Samuel begann der Tage um die gleiche Zeit. Er schmierte Emmi ein Butterbrot mit Nussnougat Creme und schnitt dazu Möhren. Danach fuhr er mit der Bahn nicht zur nahegelegenen, staatlichen High School, sondern zur teuersten Privatschule im Bundesstaat. Er hatte niemals gedacht auch nur in die Nähe des Gebäudes zu kommen, in dem die Sprösslinge der Reichen und Schönen zum personifizierten Kapitalismus herangezogen werden. Um Mitleid deutlich zu machen, gab diese Schule heute jedoch kostenlose College-Vorbereitungs-Kurse, bei denen Samuel einen Platz bekommen hatte. Gerade kam studieren für Samuel nicht infrage. Als Krankenpfleger konnte er sich kein Studium leisten. Außerdem musste er sich um seine Schwester kümmern. Trotzdem wollte er irgendwann Medizin studieren, um Arzt zu werden. Bei der Privatschule angekommen, betrat er durch das Tor eine andere Welt. Schon alleine auf dem Parkplatz standen mehr Millionen in Autos, als Samuel zählen konnte. Nur ein kleiner Kratzer würde hier mehr als sein Leben kosten.

„Sie müssen sich wieder mehr im Unterricht beteiligen, Yasmin. Ich weiß nicht, wo Sie in letzter Zeit mit Ihren Gedanken sind, aber ich habe das Gefühl, dass Sie langsam den Anschluss verlieren“, mit wilden Handbewegungen redete ihr Mathelehrer auf Yasmin ein. Das tat er jedoch vergeblich, denn sie dachte gerade über das Turnier in London nach. Eigentlich hatte sie es verdrängt, weil es für sie nicht infrage kam. Aber ein Mädchen aus einem anderen Jahrgang hatte im Gang über ihr Tennisturnier am Wochenende geredet. Deswegen das in London aus Yasmins gedanklichem Papierkorb, nun wieder in ihrem Kopf. Sie wusste, wie sehr es Samuel und Jamie am Herzen lag. Andererseits konnte sie den anderen auch nicht offenbaren, wer sie war. Niemand von ihnen durfte wissen, was für eine reiche, verzogene Göre sie war. Yasmin wusste, wie Samuel und Emmi zum Thema „Reiche und Schöne“ standen. Die beiden verabscheuten nichts mehr, außer vielleicht Heuchler, Lügner und Verräter. Und auch das war sie. Yasmin konnte nicht zulassen, die einzigen Menschen zu verlieren, die ihr wirklich etwas bedeuteten. „Haben Sie überhaupt mitbekommen, was ich gesagt habe?“, holte der Lehrer sie zurück in die Realität. „Jedes Wort, Sir“, antwortete sie reflexartig.

© Amelie Crombach 2024-07-23

Genres
Romane & Erzählungen