Ein wenig perplex und zugleich fasziniert verharrte ich kurz vor dem Laternenpfahl und ließ mir die Worte ein zweites Mal durch den Kopf gehen. Einen Sinn, den es zu enthüllen galt. Die Schlüssel zu den Mysterien dieses Globus. Irgendetwas an diesen Worten ließ mich nicht los. Es könnte ebenso gut eine beliebige Masche oder ein Scherz gewesen sein, den jemand in überdurchschnittlich philosophischem Stil aus Spaß dort angeklebt und es sich womöglich nach einigen Stunden wieder anders überlegt hatte. Aber, aus welchem Grunde auch immer, fühlte ein Teil von mir, dass es damit auch noch etwas anderes auf sich haben könnte. Und der andere Teil wollte gerne daran glauben. Da ich zu müde war, um noch weiter hier draußen in der Frühjahrskälte innezuhalten, beschloss ich kurzerhand, den Zettel mitzunehmen und die sonderbare Botschaft in einem ruhigen Moment zu Hause neu zu überdenken. Doch diese Entdeckung sollte nicht folgenlos bleiben. Als ich an diesem Tag auch Hause kam, war das Erste, das ich tat, nicht etwa, den mysteriösen Aufruf genauer unter die Lupe zu nehmen. Nein, wie so oft nach der Schule, ließ ich mich ins Bett sinken und blickte mit matten Augen auf meine Zimmerdecke. An der Raufasertapete hingen noch immer Überreste der Poster meiner frühen Teenagerjahre. Wie viel Zeit seitdem doch bereits wieder vergangen war. Damals, als ich 13 oder 14 war, hatte ich einen Brief an mich selbst für meinen 18. Geburtstag geschrieben. Liebevoll hatte ich ihn ausstaffiert mit allerhand Zukunftsplänen und Appellen an mein zukünftiges Ich. Sowie ich ihn dann am besagten Tag, mehrere Jahre und Sinneswandel später, pünktlich öffnete und wieder las, war ich an zwei Dinge erinnert worden. Zum einen: Ganz gleich, wie genau oder wie breit gefächert man sein Bild von der Zukunft auch immer anlegen mag – die Realität malt schlussendlich ein ganz anderes. Es mag auch ein gutes sein, doch in jedem Fall wird es anders, als man es sich je hätte erträumen können. Und die zweite Lektion, die ich an diesem Tag lernte: Dass es Dinge in den Menschen gibt, die man niemals niederlegen sollte, sondern stattdessen hegen wie eine kostbare Blume im Innersten. Kleine, gute Eigenschaften, die im Kind wie winzige Funken glühen und sich später, wenn nur über ein langes Menschenleben wohl genug gepflegt, wie eine prächtige Sonnenblume an einem Juliabend schön und groß entfalten können. Meine ganz eigene kleine Sonnenblume, die ich bis zu diesem Tage zumindest stets lebendig gehalten hatte, war, was meine Großtante einst an mir als Aufgewecktheit zu bezeichnen wusste. Ein Naturell, das mich stets eine unausgesprochene Vorliebe für all die großen und kleinen scheinbar nebensächlichen Fragen entwickeln ließ und mich niemals etwas oder jemanden vorschnell als „egal“ oder „unwichtig“ beiseitelegen ließ. Es nährte in mir die Faszination für die kleinen Dinge des Lebens. Und die Kraft, aus ebenso kleinen Dingen Lebensfreude zu schöpfen, wo andere kaum den Boden eines Blickes würdigten, der ihre Füße trug. Auch, wenn es beizeiten neblig war, wie an diesem Tag – der Sommer war jung. Und so sollte es erst noch einige Wochen dauern, bis ich durch etwas völlig anderes wieder an das bedeutungsvolle Stück Papier mit der verheißungsvollen Botschaft zurückerinnert wurde…
© Raisa-Mina Radloff 2023-09-27