Zieh andere Schuhe an!

Julie

von Julie

Story

Die Frau im Spiegel? Die bin ich, ja.

Warm und sanft berührten die Strahlen der Nachmittagssonne meine im Winter noch blasser gewordene Haut. Mit geschlossenen Augen, in Gedanken versunken, saß ich auf der alten, knarrigen Holzbank unter dem Lindenbaum meinerGroßmutter. Immerwährend strichen meine Finger der rechten Hand über die Innenseite meines linken Unterarmes, nervös und unruhig die erhabenen Stellen ertastend. Mein Atem beschleunigte sich ein wenig, als meine Finger an einer bestimmten Stelle zu liegen kamen. Sofort fühlte ich mich zurückgerissen in die Zeit, in der frische Verletzungen und Wunden ein Fixpunkt meines Lebens waren. Noch mit mir selbst beschäftigt, den Blick nach innen gerichtet, bemerkte ich die aufmerksamen Blicke meiner Großmutter nicht, die liebevoll auf mir ruhten. Sie näherte sich langsam, jedoch sicheren Schrittes. “Mein Kind, schön, dass du da bist.”, die sanfte, mir so vertraute Stimme durchbrach mein Gedankenchaos und anstelle meiner angestrengten Mimik trat ein Lächeln auf meine Lippen.

“Tut es wieder weh?”, fragte sie mich vorsichtig, während sie sich neben mir niederließ. Die Frage blieb unbeantwortet.

“Ach, meine müden Knochen, Julia, das kannst du mir glauben, die tun mir auch weh. Jeden Tag immer ein bisschen mehr“, setzte die Großmutter fort und tätschelte behutsam meinen Arm.“Sie haben auch viel erlebt, deine Knochen Oma!”, antwortete ich und noch während ich es aussprach stiegen mir Tränen in die Augen. “Auch du mein Kind bist reich an Erfahrung, wenn auch nicht reich an Jahren. Nicht die Zahl der Jahre gibt vor, wie sehr du das Leben fühlst. Lediglich die Intensität deines Lebens lässt dich das Leben spüren. Du hast jetzt noch so viel Zeit aus dem Schmerz zu erwachsen und zu lernen mit all deinem bisher erlebten das zu erschaffen, das dich glücklich macht. ”, ich blinzelte eine weitere Träne weg. “Du hast in kurzer Zeit sehr viel durchgemacht, das meiste davon hätte ich dir gerne erspart. Doch heute weiß ich, dass es dich bereichert hat und wenn du klug bist, nutzt du diese Intensität deines Lebens als Antrieb für Lust und Lebensfreude. Intensität sei dein Werkzeug!”, ich lehnte mich zurück und atmete tief durch. “Oma, ich weiß manchmal nicht, wie ich weitermachen soll. Ich will mich verändern, will, dass es aufhört zu schmerzen, ich will, dass es einfach anders wird!” Die Großmutter nickte und ließ ihre Hand nach wie vor auf meinem Arm ruhen. “Du willst dich verändern? Dann zieh andere Schuhe an!”, ich war verwirrt und musste wohl genauso ausgesehen haben. Oma fuhr lachend fort: “Jahr für Jahr hast du gutes, stabiles Schuhwerk getragen. Es ist dir wohl vertraut, du hast es dir auch hart verdient, doch es hinterlässt stets dieselben Abdrücke. Das unwegsame Gelände kannst du einmal verlassen, du bist genug gewandert. Trau dich neue Schuhe zu tragen, hinterlasse von nun an andere Spuren. Gib dich dem Impuls hin auszubrechen!”, woher sie diese Worte nahm, war mir unerklärlich.

© Julie 2021-03-27

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