von Lynn Yildirim
So sehr auch die Wut gegen Großvater und Alexandra in ihre hochkochte, so entfaltete sich gleichzeitig eine nie gekannte Hoffnung in ihr, dass sie vielleicht doch eine Mutter hatte, die irgendwo auf sie wartete. Aber warum hatte er sie nicht ins Meer zurückkehren lassen, wenn sie doch hierhin gehörte? „Ihr seid auch von…“ Lara zeigte nach oben, wo sich hinter unendlich scheinenden Wassermassen ihr beendetes Leben befand. Liam nickte. Hans tat es ihm gleich. „Und ihr wusstet, dass ihr hierher gehört?“ „Irgendwas war immer seltsam mit mir.“ sagte Liam und wieder pflichtete Hans ihm nickend bei. Lara fiel auf, dass alle in diesem Raum in etwa im gleichen Alter sein mussten. Doch sie wollte jetzt nicht darüber nachdenken. Sie dachte an all das, was sie verloren hatte und spürte wieder den sehnlichsten Wunsch sich selbst zu verlieren. Tatsächlich schaffte sie es, die meiste Zeit zu schlafen. Wenn sie wach war, hielt sie die Augen entweder geschlossen oder starrte die Wand an, zu der sie sich stets drehte, wenn sie erwachte. Sie hörte Liam ein paar Mal nach ihr rufen, aber sie tat stets, als ob sie nichts gehört hatte. Dreimal am Tag wurde den Jugendlichen Essen in Form eine Schale mit Deckel gebracht. Erst nach einer Woche hatte Lara solch einen Hunger, dass sie keinen Ausweg mehr sah, als in die Schüssel hineinzusehen. Darin schwammen ein paar leblose Meeresfrüchte, sowie klein geschnittene Algen. Obwohl sie der Anblick dieser rohen Kost anwiderte, zwang ihr knurrender Magen sie dazu die ungewohnte Mahlzeit zu kosten. Sie schmeckte kaum etwas und gab sich auch keine große Mühe. Es interessierte sie nicht, sie wollte bloß das Knurren ihres Magens nicht mehr hören, von dem sie sich in ihrer Trauer gestört fühlte. Einmal am Tag wurden ihre Beine abgetastet. Sie spürte sie schon eine Weile nicht mehr. Das Zeitgefühl kam ihr abhanden, aber es müssten mehrere Wochen gewesen sein, bis eine der drei Frauen, die ihnen das Essen brachte und sie untersuchten beschloss, es wäre Zeit ihren Algenverband abzunehmen. Sie spürte die Hände der Krankenschwester nun, wie sie sie früher auf ihren Beinen gefühlt hätte. Die Algenschicht wurde mit einer spitzen Muschel geöffnet und Lara schaute fassungslos auf ihren Rumpf. Ihr Oberkörper steckte an einem Gold schillernden Fischschwanz. Eine neue Welle der Übelkeit übermannte sie. Sie sah erst zur Schwester hinüber als dieser die Muschel aus der Hand fiel. Auch sie starrte wie gebannt auf Laras Flosse. Sie sah Lara einen Moment ins Gesicht und begann dann die Algen wieder um die Flosse zu legen. „Sie ist noch nicht fertig.“ sagte sie nach einer Weile zu Lara. „Du wirst noch ein paar Wochen brauchen.“ Dann verschwand sie schnell und kam kurze Zeit später mit den anderen beiden Frauen zurück, die sich um sie kümmerten. „Wir möchten dich noch einmal untersuchen.“ sagte eine von ihnen und wieder hoben sie die Algenschicht an. Auch sie schauten fassungslos auf Laras Flosse. Und obwohl Lara den Anblick auch das zweite Mal erschreckend und wenn auch weniger widerlich fand, so merkte sie doch, dass die Reaktion der Schwestern nichts Gutes bedeutete. Sie bedeckten die Flosse wieder und tuschelten angespannt beim Hinausgehen. Lara sah zu Liams Bett in der Hoffnung, dass er eine Antwort auf dieses Rätsel wusste. Doch das Bett, in dem er gelegen hatte, war leer. Natürlich, er war früher da gewesen als sie, die Entwicklung seiner Beine musste abgeschlossen sein. Angespannt wartete sie, denn sie war sich sicher, dass nun etwas passieren würde. Würde man sie freilassen? Was sollte sie dann tun?
© Lynn Yildirim 2024-02-26