von Eva Meixner
Lara saß auf einem Felsbrocken am Meer und sah zum Horizont. Sie vergrub ihre nackten Füße im warmen Sand. Wie jeden Abend hielt sie nach Schiffen Ausschau, nach Schiffen, die unscheinbar und unschuldig aussahen, aber eine gefährliche Fracht mit sich führten. Sie suchte ein Schiff mit einer kleinen schwarzen Fahne am Bug. Mit so einem Schiff waren die Männer gekommen, die ihren Bruder verschleppt hatten. Lara grub ihre Zehen noch tiefer in den warmen Sand und dachte an diesen Tag zurück, der Tag, nachdem für sie nichts mehr so sein sollte wie es einmal war.
Luke und sie hatten sich damals in einem Kartoffelkeller versteckt. Sie hatte sich flach unter ein Regal gelegt, während Luke in einem Berg aus Kartoffeln Schutz gesucht hatte. Ein Stückchen jedoch blieb von ihm sichtbar. Immer wieder sah sie es vor ihrem inneren Auge, wie diese Hand Luke am Knöchel packte und aus dem Berg Kartoffeln zog. Luke strampelte und schrie, aber nichts half. Die Hand packte ihn nur noch fester am Knöchel, schmiss ihn hoch und schwere Stiefel stampften mit dem brüllenden Luke aus dem Kartoffelkeller. Lara versuchte verzweifelt unter dem Regal hervorzukommen, doch in ihrer Aufregung gelang es ihr nicht. Viel zu spät konnte sie sich befreien. Sie rannte auf die Straße, doch von den Männern war keine Spur mehr zu sehen. „Sie sind Richtung Hafen gegangen“, wisperte es da über ihr. Pepe, der Meister der Unsichtbarkeit, saß, für die meisten Augen nicht erkennbar, in einem Mauerspalt.
Lara hatte nur genickt und war losgerannt. „Warte“, rief ihr Pepe hinterher, „ich komme mit!“. Doch das hörte Lara schon nicht mehr. Ihr Herz war ganz zugeschnürt. Ihr Bruder war alles, was sie auf dieser Welt noch hatte. Sie gehörten zusammen. Sie rannte und rannte. Sie achtete nicht auf ihre Umwelt, achtete nicht darauf, ob sie einen Korb umwarf, in jemand hineinrannte und ob neugierige Blicke sie verfolgten.
Als Straßenkind hat man keine Rechte und kann sich nicht verteidigen. Nicht aufzufallen und von den Erwachsenen ungesehen zu bleiben ist deshalb überlebenswichtig. Lara war eigentlich Meisterin darin, ungesehen zu bleiben. Doch nicht heute, nicht wo Männer mit dreckigen Stiefeln und schmutzigen Händen ihren Bruder stehlen wollten. Das Herz stach in ihrer Brust, doch sie rannte weiter. Da sah sie den Hafen, sah die Männer, sah, wie der letzte Mann das Schiff betrat und wie die Seile eingeholt wurden. „Luke“, schrie sie und rannte Richtung Schiff. Doch da stürzte sich jemand von hinten auf sie und sie fiel zu Boden. Sie spürte nicht den Schmerz ihrer aufgeschlagenen Knie, hörte nicht die Stimme, die mit ihr sprach, sie sah nur, wie das Schiff ablegte und ihren Bruder mitnahm und sie nichts dagegen tun konnte. „Luke“, brüllte sie noch einmal. Das Schiff legte ab und alles verschwand hinter einem Schleier aus Tränen.
© Eva Meixner 2023-09-01