von Vivien Förster
Ich fragte mich, wieso Paris die Stadt der Liebe genannt wurde. Als ich den Weg von meiner Schule zurück nach Hause ging, betrachtete ich die Beton- und Glasblöcke, die hoch in den Himmel ragten. Nichts an ihnen wirkte besonders romantisch oder hübsch. Es gab vielleicht ein oder zwei Gassen, die schön anzusehen waren, doch sie waren so voller Menschen, dass sie ihren Charm schnell wieder verloren. Vielleicht würde ich eines Tages lernen, diese Stadt zu mögen. Viel Wahl hatte ich schließlich nicht, es würden immer Paris und ich sein. Ich seufzte und reckte mein Gesicht dem Gesichtserkennungsscanner meines Wohnblockes entgegen, während ich einen Becher Tee, ein halb aufgegessenes Croissant und einen Stapel Bücher auf meinen Armen balancierte. Bevor der Scanner mein Gesicht erfassen konnte, wurde die Tür von innen geöffnet und ich stolperte in die Arme meines Gegenübers. Dieser stieß ein überraschtes Geräusch und dann ein Lachen aus. „Oh hallo, Cam! Kann ich dir helfen?“ „Hey, Ari. Ich glaube ich komme zurecht, danke.“, sagte ich, nachdem ich einen kurzen Blick auf meinen Gegenüber geworfen hatte. Adrian hatte blondes kurzes Haar, dass ihm in die Stirn fiel. Er war ein Stück größer als ich und das Grün seiner Augen strahlte mich an. Er sah mich jetzt mit einem schiefen Lächeln an. Wir waren bereits seit unserer Kindheit Nachbarn und er war eine Klasse über mir in der Schule. „Du nimmst wirklich nie Hilfe an.“, seufzte er, „Komm.“ Er nahm mir den Becher und das Croissant ab. Ohne ein weiteres Wort ging er voraus durch den Eingangsbereich und biss dabei genüsslich von meinem Croissant ab. Ich rollte mit den Augen, doch es war nutzlos etwas zu erwidern, also folgte ich ihm.
Nachdem Ari meine Sachen in unserer kleinen Küche abgestellt hatte, verabschiedete er sich mit einem letzten breiten Grinsen und ließ mich in der Wohnung zurück. Ich stieß die Luft aus und genoss die plötzliche Stille, viel besser als der Lärm von Paris. Es kam selten vor, dass ich allein zuhause war. Meine Eltern arbeiteten normalerweise von zuhause an den Projekten, die ihnen ihre Firma aufgehalst hatte. Es war immer etwas los und für einen Moment war ich ratlos, was ich mit diesem gewonnenen Freiraum machen konnte. Ich trank meinen Tee auf und aß den Rest meines Croissants, bevor ich den Flur zu meinem Zimmer entlangschlurfte. Vor der Zimmertür meiner Eltern hielt ich kurz inne, meine Hand schwebte über der Klinke. Langsam drückte ich sie herunter und meine Augen weiteten sich überrascht, als ich keinen Widerstand spürte. Ich ließ die Hand fallen als hätte ich mich verbrannt. Seitdem ich klein war, war diese Tür verschlossen gewesen. Ich hatte damals erfolglos nach einem Schlüssel gesucht und meine Eltern angebettelt mich hineinzulassen, doch sie hatten immer verneint. Jetzt spürte ich, wie die Neugierde an mir nagte. Kurz schloss ich meine Augen und atmete langsam ein und aus. Dann öffnete ich die Tür.
© Vivien Förster 2022-08-31