Kapitel 4

Lisa Baumgartner

von Lisa Baumgartner

Story

Das Gedicht war wunderschön. Adam verstand welche Gefühle der Schreiber dieser Worte gespürt haben musste. Es mussten dieselben gewesen sein, die in Adam hoch kamen, während er sie las. Sie riefen, und wenn nur für einen kurzen Moment, irgendwie ein Gefühl von Freiheit hervor. Der Freiheit, nach der er sich so sehr sehnte. Diese Art von Freiheit, die Adam wohl niemals erleben wird. Aber dieser Dichter erlebte sie genau in dem Moment, in dem er diese Worte niederschrieb. Und die Adam nun in seinen Händen hielt. Aber wie waren sie zu ihm gekommen? Und wie lange trug er das Gedicht nun schon mit sich in seiner Tasche herum? Gefühlte hundert Male las er es noch einmal durch, während er sich zusammen mit dem Blatt unter seiner Bettdecke verkroch. Wer hatte das Gedicht geschrieben? Und für wen hatte er es geschrieben? Adam war sich sicher, dass es nur durch ein Versehen in seine Hände geraten sein musste. Denn er kannte niemanden, der ihm so etwas zustecken sollte. Geschweige denn jemanden mit solch einem Namen. Jabłko. Ob das nur ein Künstlername war? Irgendwann schlief er erschöpft ein. Erschöpft von den verwirrende Gefühlen, verursacht durch die Worte, die ihm im Halbschlaf durch den Kopf schwirrten wie ein Ohrwurm. Der nächste Tag verging genau wie der Letzte. Sein Vater weckte ihn unsanft und aggressiv auf. Adam quälte sich durch die Meetings in der Firma. Nur mit dem Unterschied, dass er sich, bereits unmittelbar nachdem er seine Augen öffnete, an das Gedicht von letzter Nacht erinnerte. Welches ihn den ganzen Tag im Geiste begleitete. Die ersten Stunden waren noch euphorisch und Adam konnte nicht darauf warten, es an diesem Nachmittag noch einmal mindestens einhundert Mal zu lesen. Doch merkte er, dass er mehr brauchte. Dass er mehr wissen wollte. Er wollte wissen, welche Art von Mensch es sein musste, der solche Worte empfand. Worte, die ausdrückten, wie Adam wünschte, sich zu fühlen. Er wollte mehr von diesem Menschen erfahren. Er wollte wissen, wie er es geschafft hatte, seine Gefühle in diese Worte zu fassen. Wie er es geschafft hat, sich so zu fühlen. Stunden wurden zu Tagen.Tagen, in denen Adam beinahe nichts anderes tat, als wie besessen sich über das Gedicht beugte und dessen Sätze und Bedeutung analysierte. Und obwohl ihm dies ein winziges Stück Freiheit schenkte, merkte Adam, dass er damit in Wirklichkeit nur die Realität ausschloss. Nur widerwillig und mit letzter Kraft, zog er seine Bettdecke von sich herunter, schlüpfte in seine Jogginghose und warf sich seine Stofftasche über die Schulter. Auch, wenn er sich dazu zwingen wollte, das Gedicht nicht wieder und wieder durchzulesen, stopfte er es trotzdem in seine Tasche, um es bei sich zu haben. Adam war sich nicht sicher, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte, dass es gut für ihn wäre mal wieder in die Stadt zu gehen, als er die große Tür der Villa hinter sich schloss. Doch merkte er selbst, dass er mittlerweile besessen von dem Gedicht war. Er musste etwas Abstand dazu nehmen. Denn sonst würde ihn dieses süchtig machende Gefühl der nicht realen Freiheit irgendwann einnehmen. Selbst, wenn er nur zu seinem Lieblingscafé ging. Sich dort im oberen Stockwerk, an den langen Tisch am Fenster, auf einen der hohen Barhocker setzte und das Gedicht aus seiner Tasche nahm, um sicher zu gehen, dass er auch keines der Wörter vergessen hatte, als er es auf dem Weg auswendig im Kopf durchgegangen ist.

© Lisa Baumgartner 2023-08-03

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Emotional
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