«Die Lesung ist eine in vielen Teilen wissenschaftliche Methode. Du brauchst keine Angst zu haben», Virginias Augen blitzten. «Aber jetzt mal ehrlich, sie glauben doch nicht, dass ich hier jetzt einfach alles mit mir machen lasse. Erst werde ich gekidnappt und jetzt soll ich ihnen einfach so vertrauen?», machte sich Alma wieder bemerkbar. Jetzt würde sie nicht einfach so tatenlos ihr Schicksal in fremde Hände legen. Sie blieb stehen; Virginia nicht. Das Gelb verschwand im Tempel und ließ Alma, ohne einen Blickes zu würdigen, dort stehen.
Die Hitze war unerträglich. Alma atmete durch, blickte nach oben und gab einen kleinen Schrei von sich, der nicht schnell genug unterdrückt werden konnte. Ein Affe sprang aus der Dunkelheit von einer Liane zur anderen. So stand sie da. Gespenstisch still war es. Allein, verloren und ihr wurde die Aussichtslosigkeit ihrer Situation deutlich. Klar, sie könnte zurück nach Bottrop, aber wie würde es dann weiter gehen? Sie konnte ja nicht einfach so tun, als ob nichts passiert wäre. Und wem sollte sie überhaupt etwas erzählen? Man würde sie für verrückt erklären, nachforschen und Drogen finden, die die Sache erklären würde. Sie konnte nicht einfach so zurück. Wenn sie ehrlich war, gab es Niemanden, der wirklich trauern würde. Besser gesagt, gab es auch niemanden um den Sie trauern könnte. Vater war zwar immer bekümmert und lieb gewesen, aber genauso würde es ihn nicht stören, wenn sie nicht mehr da wäre. Es war ihr egal. Diese Gedanken sind ihr schon früher gekommen, aber es hat für sie nie einen Weg gegeben. Jetzt war dieser Weg vor ihr. Egal was kommt, besser als der basaltgraue Alltag ist es allemal.
Ein Schritt, dann noch einer und plötzlich stand sie vor der Hütte. Sie griff nach der Bambusstange, die als Türgriff erkennbar war und öffnete sie. Neben Virginia, die anscheinend fest damit gerechnet hatte, dass Alma kommen würde, stand ein sehr schusselig wirkender, ja schon fast alter Mann. Er trug traditionelle Kleidung, was aber nicht zu seinem restlichen äußerlichen Erscheinungsbild zu passen schien. Seine Haare und Bart waren ins unnatürliche gefärbt und über seine Geheimratsecken gekämmt. Neben Virginia wirkte er lächerlich klein, aber irgendwie schaffte auch er es souverän zu wirken; zumindest es zu wollen. «Das ist Doktor Wilson», sagte Virginia. Dass er Amerikaner ist, war Alma vom ersten Moment an klar. «Er ist für die Lesung zuständig», fuhr Virginia fort. Der anscheinende Doktor kam auf Alma zu und gab ihr die Hand. «Ich beiße schon nicht», warf Wilson äußerst hilfreich ein. Wenigstens verhielt sich hier einer im Raum, wie Alma es erwartete. Beide schauten sie erwartungsvoll an. «Wurdest du schon einmal hypnotisiert? »Also hypnotisiert vom langweiligen Geschwafel ihres Vaters auf jeden Fall, aber das war hier wahrscheinlich nicht gefragt.
«Nicht dass ich wüsste», antwortete Alma wahrheitsgemäß. «Gut, dann werde ich dir einmal erklären was jetzt passiert. Du weißt ja sicherlich, wie das Leben entstanden ist. Erst gab es nur Einzeller, dann bildeten sich ganze Organismen, erst im Wasser und dann auch auf dem Land. Das Leben hat sich immer weiter entwickelt und durch die Evolution haben wir nun circa 50 Millionen Tierarten auf der Erde; Tendenz senkend, leider. Du stehst und wir alle stehen also in direkter Verwandtschaft mit mehr Tieren als Menschen, verstehst du?
© Mauritz Wilshusen 2023-08-12