von Marlis Breckner
Blue, das ist nicht nur eine Farbe, das ist diese eine Person, die dich fühlen lässt. Nicht besonders, einfach nur fühlen. Aber ich weiß nicht, was ich fühlen soll, denn es wird zu viel. Ich weiß nicht, welchen Weg, denn es gibt so viele.
„Wie fühlt sich eigentlich Liebe an?“, fragte ich. Christian, der mir gegenüber in der Schulcafeteria saß, zuckte blinzelnd die Schultern. „Das fragst du ausgerechnet mich?“
Ich verdrehte die Augen und mein Blick huschte hinüber zu David, der an einem anderen Tisch saß und ein Buch las. Christian folgte meinem Blick und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.
Sie sagen: „Fokussiere dich nicht auf eine Person.“ Aber was soll man denn tun, wenn diese eine Person nur deinen Weg kreuzt und es dich aus der Bahn wirft? Blue, so nenne ich ihn im Geheimen, in meinem Kopf, versteckt in süßen Texten. Ich nenne ihn Blue, weil blau meine Lieblingsfarbe ist und weil seine Augen nicht blau sind aber so tief strahlen können wie der blaue Ozean. Er kann so weit weg sein, wie das dunkle Universum und so nah wie der blaue Planet. Es hat keinen Sinn, und doch zieht es mich hin zu ihm. Ich will mich nicht wehren und ich will nicht mehr weiter rennen. Denn ich weiß, dass ich ihm nicht egal bin. Aber ich weiß, dass ich nicht sein Blue bin und es nie sein werde.
„Das kannst du vergessen“, meinte Chris trocken. „Du musst grad reden!“, giftete ich zurück. „Ich will nichts von David, nicht wie du denkst. Ich kenne ihn ja kaum“, fügte ich nach einer kurzen Pause hinzu. Chris verschränkte die Arme. „Ich weiß, Ayla“, sagte er. „David hat so etwas Anziehendes. Er grüßt jeden, versteht sich mit jeden, so ein All-Time-Sunshine.“ Ich seufzte. „Kennst du das Gefühl, wenn du einfach mit jemandem etwas unternehmen willst? Wenn du seine Nähe suchst, weil du das Gefühl hast, es passt halt einfach? So als würde diese Person genauso denken wie du und ihr wärt glücklich, so wie sie es alle in den Filmen sind?“ Ob es Seelenverwandte wohl auch im echten Leben gibt? Das steht in den Sternen und die Sterne schweigen. Sie schweigen.
Chris nickte. „Und du hältst es für Liebe.“ Er griff nach seinem Wasserglas. Erneut lugte ich zu Davids Tisch hinüber. „Aber was ist es denn dann, wenn es keine Liebe ist?“, fragte ich frustriert. „Ich würde jetzt einfach mal ins Blaue raten und sagen … Freundschaft?“, schlug Chris vor. „Ist das nicht genau das, was auch uns verbindet?“
Ich blinzelte ihn erschrocken an. Wusste er es? Wusste er, dass bis vor ein paar Monaten er mein heimlicher Blue gewesen war? Ich räusperte mich. „Ähm … ja natürlich … ist ja auch egal.“
Eine Definition braucht das alles gar nicht. Denn ich bin bereit, einen Weg zu gehen, ob mit Blue oder ohne. Ganz egal, wer hinter der blauen Maske wartet. Ganz egal, ob die Maske je fallen wird. Ich nehme es in Kauf. Es ist wie ein niemals endender Kreislauf von wiederkehrender Schönheit, die jedes Mal schöner wird. Wiederkehrende Dunkelheit, die jedes Mal dunkler wird.
Ruckartig stand ich auf. „Ich muss dann los. Hab gleich Englisch und ich muss noch … äh … mein Buch aus dem Spind holen“, brabbelte ich. Als ich mich wegdrehte hätte ich mir gerne gegen die Stirn geschlagen, denn ich besaß gar keinen Spind. Grinsend verließ ich die Cafeteria. Und als ich an Davids Tisch vorbeikam, trafen sich für eine Sekunde unsere Blicke.
Und jede Schönheit, jede Dunkelheit ist überzogen mit einem schimmernden Blau.
© Marlis Breckner 2023-09-02