Im Gegensatz zu Ava war Henry schon immer gerne am Meer gewesen. Er war erst ein paar Wochen alt gewesen, als seine Eltern ihn das erste Mal mit zum Strand genommen haben. Erst noch unter einem Sonnenschirm, während sein Bruder bereits in den Wellen spielte, Sandburgen mit ihrem Vater baute oder sich von ihm bis zum Kinn im Sand vergraben ließ. Mehr als sein halbes Leben hatte sich am Meer abgespielt.
Das war das Einzige, was ihn immer an Ava gestört hatte: Sie war nie gerne am Wasser gewesen. Seit sie Morgan kannte, versuchte sie es zumindest, zaghaft zwar, aber immerhin. Bei ihrem ersten gemeinsamen Strandbesuch traute sie sich noch nicht tief in die Wellen, aber weil Morgan am liebsten jeden Tag zum Meer ging, gewöhnte sie sich schnell daran. Sobald es wärmer wurde, trafen sie sich häufig zum Schwimmen, erst am Wochenende und später auch nach der Schule, wenn sie nicht so lange Unterricht hatten.
Heute waren sie an einem der größeren Strände, der mit seinem klaren Wasser zum Schnorcheln einlud. Es beeindruckte Henry, dass Ava sich mittlerweile traute, ihr Gesicht ins Wasser zu legen. Bis dahin war es ein langer Weg gewesen, aber es hatte sich gelohnt. Während er sich beim Schnorcheln noch um Ava kümmerte, schwamm Morgan direkt weit aus der Bucht. Sobald sie in die Wellen sprang, schien sie alles um sich herum zu vergessen. Henry hatte sich schnell daran gewöhnt, nur Ava neigte dazu, sich Sorgen zu machen, wenn Morgan lange nicht auftauchte.
»Kannst du nach ihr sehen?«, fragte sie und blickte sich hektisch um, die Stirn vor Sorge in Falten gelegt.
Henry wollte ihr sagen, dass Morgan schon wusste, was sie tat, seufzte aber stattdessen nur und setzte sich seine Tauchmaske richtig auf. Er gab es ungern zu, aber auch er wurde allmählich unruhig, weil sie so lange fort war. An sich konnte ihr an diesem Teil des Strandes nichts passieren, doch Morgan tauchte immer ohne Schnorchel, nur mit einer Maske und der Luft in ihren Lungen. Wenn sie sich übernahm, konnte auch eine Tiefe von einem Meter gefährlich werden.
Mit seinem Schnorchel im Mund schwamm Henry los und hielt unter Wasser nach Morgan Ausschau. Es dauerte eine Weile, bis er sie fand, doch sobald ihr heller Badeanzug ihm ins Auge stach, fühlte er sich etwas leichter ums Herz. Als er genauer hinsah, verschluckte er sich fast. Morgan tauchte bestimmt drei, vier Meter tief, doch es schien ihr nichts auszumachen. Nur mit einer Tauchmaske im Gesicht schwamm sie an einem kleinen Riff entlang und bestaunte die Korallen und Fische.
Henry konnte nicht sagen, wie lange er sie anstarrte. Irgendwann brannten seine Lungen und er tauchte wieder auf.
»Mach dir keine Sorgen«, murmelte Henry, als er wieder bei Ava angekommen war und ihren fragenden Blick sah. »Morgan ist ganz in ihrem Element.«
© Natascha Eschweiler 2022-08-31