von Yasmin Dohrwardt
Auf einmal wird es wieder dunkel in dem Zimmer. Die alten Möbel verschwinden mitsamt meinem jüngeren Ich und mein Zimmer sieht wieder so aus, wie ich es vor ein paar Tagen hinterlassen habe. Ich verlasse den Raum und sehe, dass Oma in unserer Küche mit dem Abwasch beschäftigt ist. Ich gehe durch den Flur und bleibe in der Küchentür stehen. Oma sieht sehr erschöpft aus. Sie kümmert sich seit Tagen um alles. Sie hat kaum eine Minute für sich selbst. Plötzlich fällt ihr mit einem lauten Klirren ein Glas in das mit Wasser gefüllte Spülbecken und sie wird nass gespritzt. Wütend schmeißt sie den Lappen zur Seite und stützt sich mit den Händen am Rand des Beckens ab. So ausgelaugt wie in diesem Moment habe ich sie noch nie gesehen.
Auf einmal höre ich ihre Stimme aus dem Flur hinter mir. Verwirrt drehe ich mich zu dem Geräusch um. Dort hockt meine um einiges jüngere Oma vor einem kleinen Mädchen: „Und wenn du mich ganz doll vermisst, nimmst du ihn fest in den Arm und es ist, als wäre ich direkt bei dir“. Oma überreicht dem kleinen Mädchen, bei dem es sich um mein fünfjähriges Ich handelt, einen kleinen braunen Kuschelbär.
Ich erkenne ihn sofort wieder. Es ist Bärchi. Den hat Oma mir geschenkt, als Mama und ich bei ihr ausgezogen sind. Es war der erste Abend, den Mama und ich alleine in der neuen Wohnung verbracht haben. Ich habe Bärchi so sehr geliebt, dass er am Ende kaum noch zu erkennen war von dem ganzen Kuscheln. Er hatte immer einen Ehrenplatz in meinem Bett und jedes Mal, wenn ich Oma vermisst habe, hat Bärchi mich beruhigt.
Ich sehe eine kleine Träne in dem Auge des kleinen Mädchens, die sich langsam ihren Weg über ihre Wange bahnt. Oma nimmt sie ganz fest in den Arm. Ich erinnere mich an ihren Geruch. Ich habe ihn immer geliebt. Es ist ein süßer blumiger Geruch. Das Bild von Oma, Mama und mir im Flur wird immer blasser. Ich kann noch erkennen, wie Oma sich von uns beiden verabschiedet und durch die Tür nach draußen geht. Und dann ist das Bild verschwunden.
Ich drehe mich wieder zur Küche um. Dort steht meine Oma noch immer auf das Waschbecken gestützt. Sie lässt ihren Kopf hängen und ich sehe ein paar Tränen, die aus ihren Augen in das Spülwasser tropfen. Es kommt mir vor, als wäre sie Welten von mir entfernt, obwohl wir nur wenige Meter voneinander getrennt stehen. Ich trete etwas näher an sie heran. Sie sieht so niedergeschlagen aus. Ich würde nichts lieber tun, als sie zu umarmen und ihr ein bisschen Kraft zu geben. Ich würde so gerne noch einmal ihren süßen Geruch einatmen. Ich lege meine Hand auf ihren Rücken, zumindest so gut es geht. Währenddessen denke ich an all die schönen Momente, die wir gemeinsam erlebt haben. Ich denke an die vielen Tage, die wir mit Actionfilm-Marathons und dem Spielen von Monopoly oder Risiko verbracht haben. Ich merke, wie mir selbst die Tränen in die Augen steigen. Einen Moment später richtet Oma sich auf, wischt die Tränen weg und setzt den Abwasch fort.
© Yasmin Dohrwardt 2022-08-30