Kapitel 5

Anneke Grotjahn

von Anneke Grotjahn

Story

„Also, deine Tage sind wirklich ausgesprochen pünktlich.“ Ich hätte ihn köpfen können. Oder vierteilen. Oder ertränken. Es war mir egal. Wir standen bereits an den Fahrradständern, als Farrin das sagte. Und wie es mein heutiges Glück zuließ, stand keine drei Meter weiter Ruud. Er ging in meine Stufe und war die Tratsch-Tante unter den Jungs. Also ein Tratsch-Onkel. Und er hatte Farrin gehört. Das breite Grinsen auf seinem Gesicht, das seine Zahnspange entblößte, verriet ihn. Ich verbarg mein Gesicht in meinen Händen und versuchte hinter Farrin abzutauchen, doch der machte sich schleunigst davon. „Ich hasse dich!“, rief ich ihm hinterher und hörte ihn noch laut lachen, bevor er um die nächste Ecke verschwand. Mit seinem hämischen Grinsen auf den Lippen zwinkerte Ruud mir zu und folgte Farrin in Richtung des Schulgebäudes. Ich legte meinen hochroten Kopf auf den Sattel meines Fahrrads und schloss die Augen. Es musste natürlich passieren, dass Farrin meine Geschwisterliebe ausnutzen würde. Der Sattel war schön kühl und beruhigte mich ein bisschen. „Hey, ist dir noch zu helfen?“, ertönte plötzlich eine Stimme, die mir sehr bekannt vorkam. „Nein, schon lange nicht mehr“, antwortete ich und hob meinen Kopf. Wie erwartet, stand vor mir ein kleines Mädchen, das mich aus dunklen Augen ansah. Allein ihre Stimme hatte gereicht, um zu wissen, dass sie es war. Ihr deutscher Akzent war noch so präsent, wie vor drei Jahren, als sie bei uns in die Klasse kam. Sofort fühlte ich mich ein bisschen besser. Jasmin sah mich immer noch an. „Guten Morgen, erstmal. Soll ich ehrlich sein? Du siehst furchtbar aus, Flo. Lass mich raten: Du hast deine Tage bekommen, Farrin nervt oder Ruud?“ Ich massierte mir die Schläfen. „Alle drei.“ Jasmin machte große Augen. „Ach Gottchen! Flora, das muss ja die Hölle sein!“ Statt zu antworten, nickte ich einfach. Doch durch ihre Ausdrucksweise versüßte sie meinen Tag direkt etwas und trieb mir ein kleines Grinsen ins Gesicht. „Was ist? Habe ich schon wieder etwas falsch gesagt?“, fragte sie und sah mich so verzweifelt an, wie sie mich immer ansah, wenn ich grinste und sie den Grund nicht kannte. „Dein ‚Ach Gottchen‘ fand ich einfach witzig.“ Ich versuchte den deutschen Ausdruck so gut es ging nachzumachen, was nun Jasmin zum Lachen brachte. „Sag das nochmal“, bat sie mich, doch ich schüttelte den Kopf. „Na, ihr gekke kippen?“ Auch diese Stimme war unverkennbar. Und deutsch. Lucie, die uns als bekloppt Hühnchen bezeichnet hatte, was wahrscheinlich der Wahrheit entsprach, kam von der Bushaltestelle zu uns geschlendert. Auch sie war vor drei Jahren von Deutschland hierhergekommen und daher mit der Sprache noch nicht so vertraut. Ihr Versuch, das g auszusprechen, war so in die Hose gegangen, dass ich laut losprustete. „Lach nicht, sprich erstmal richtiges Deutsch, dann sprechen wir uns wieder“, rief sie eingeschnappt. Die beiden hatten sich angewöhnt, die Worte, die sie gerade nicht wussten, entweder auf Englisch oder Deutsch zu sagen, wodurch ein wildes Durcheinander entstand. „Isch spresche ervorragend Deutsch“, erwiderte ich mit gespielt französischem Akzent. Lucie fiel die Kinnlade runter und auch Jasmin sah mich überrascht an. „Bitte was? Du sprichst Deutsch?“ „Und ich bemühe mich jeden Tag, mich irgendwie verständlich auszudrücken?“, fragte Lucie empört. „Leute, ich hatte doch Deutsch als Fach“, erwiderte ich lachend, „Und außerdem bin ich zweisprachig aufgewachsen.“

© Anneke Grotjahn 2024-11-16

Genres
Humor& Satire
Stimmung
Entspannend