„Ho ho ho, Bescherung!“, schrie Sanna durch mein geöffnetes Schlafzimmerfenster. Ich beugte mich über die Fensterbank und sah meine beste Freundin mit zwei Einkaufstüten in unserem Vorgarten stehen. Eine Umarmung später saßen wir im Schneidersitz auf meinem Bett, der Inhalt der Tüten zwischen uns ausgebreitet.
„Wohin sind deine Eltern nochmal verreißt?“, fragte Sanna, während sie sich durch den Berg aus Klamotten wühlte.
„Sie besuchen übers Wochenende alte Freunde aus ihrer Zeit vor Levi und mir.“
Sanna grinste verschwörerisch. „Die alte Jugendflamme deiner Mutter vielleicht?“
Ich verzog das Gesicht bei dem Gedanken an meine Eltern im Teenageralter. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass meine Mutter jemals einen anderen geliebt hat als meinen Vater.“
„Und du? Liebst du jemanden?“ Sanna beugte sich vor und für einen kurzen Moment dachte ich wirklich, sie würde mich küssen, dann aber presste sie ihre Stirn an meine und nahm mich bei den Händen. Ihr rot gelocktes Haar umrahmte unsere beiden Gesichter, während mein Herz aus irgendeinem Grund ein Schlagzeugsolo in meiner Brust zu performen schien.
„Du weißt, du kannst mit mir über alles reden. Ist es jemand aus der Schule?“
Ich wollte gerade verneinen, da kam mir Ben in den Sinn. Er sah gut aus, keine Frage. Und er war nett gewesen, zumindest bis sein Freund aufgetaucht war. „Niemand konkretes. Und du?“
„Jungs interessieren mich nicht. Die sind eh alle nur hormongesteuert. Mädchen in unserem Alter sind viel reifer.“
„Du stehst also auf Ältere wie Levi und Erik?“
Sanna zögerte. „Ähm… ja, genau.“
Die Vorstellung irritierte mich, denn bisher hatte ich Erik nie so betrachtet. Er ging in unserem Haus ein und aus, seit ich denken konnte und schien mit seinem Altersunterschied von fünf Jahren in einer ganz anderen Welt zu leben.
„Hier, das würde bestimmt toll an dir aussehen.“ Sanna holte mich zurück in die Gegenwart, indem sie mir ein bauchfreies Top und super kurze Shorts reichte. Ich betrachtete mich im Spiegel. Die abgeschnittene Jeans bedeckte gerade mal ein Drittel meines Oberschenkels und das weiße Top war so hauteng, dass die Konturen meines BHs überdeutlich sichtbar waren.
„Was hast du?“ Sanna trat hinter mich, so dass wir nun beide im Spiegel zu sehen waren.
„Ich weiß nicht“, formulierte ich diplomatisch. „Ich finde den Look etwas gewagt.“
„Gewagt?“ Sie hatte eine Augenbraue erhoben. „Du sollst gewagt aussehen, schließlich gehen wir auf eine Studentenparty, wo alle so gekleidet sind. Du willst doch nicht als das prüde Schulmädchen in Erinnerung bleiben.“
Ich nickte zustimmend. Irgendwie wusste Sanna immer, was das Beste für mich war – mehr noch als ich selbst. In einer Art und Weise, die ich mir nicht erklären konnte, ärgerte mich das.
© Noah Gibriel Koita 2022-08-30