Kapitel 6

Özlem Akdeniz

von Özlem Akdeniz

Story

Der Tunnel war endlos weit und dunkel. Aelia schwirrte vieles im Kopf herum und ihre Phantasie spielte ihr übel zu. In einer Vision krümmte sich die Großmutter vor Schmerz, weil die Frau sie folterte. In einer anderen folgte sie Aelia durch den Tunnel und sie waren wieder vereint. Natürlich wusste sie, dass sie nicht stehenbleiben durfte, aber sie musste sich einen Augenblick nehmen, um die Phantasmen von sich schütteln. Leider – mag es noch so kurz gewesen sein – verschaffte dies den Schatten die genügende Zeit, um Aelia einzuholen. Sie zischten an Aelia vorbei und versperrten ihr den Weg. Zwei Schatten standen vor ihr und einer hatte sich hinter ihr verfestigt. »Lasst mich durch«, trat Aelia mutig hervor und die Schatten schlossen sich zu einem rotierenden Kreis zusammen. Sie hob die Hand und formte sich Gefährten, die ihr zu Seite stehen sollten. Gefesselt von diesem Anblick blieben die Schatten stehen und Aelia rief zum Angriff. Eine Blumenfee flog zwischen den ersten beiden durch und verwirrte sie mit unzähligen Drehungen. Hinter Aelia schlug ein Goblin wild um sich und scheute den Schatten fort. Das verschaffte die Ablenkung, die Aelia zur Flucht brauchte. Sie flitzte an den Schatten vorbei und war sich sicher durchzukommen, als sie am Bein gepackt wurde. Ihr Licht durchzuckte ihren Körper und der Schatten ließ von ihr ab, als hätte er einen Stromschlag abgekriegt. Er fiel zu Boden und krümmte sich zu einer dunklen Lache zusammen. Ohne weiter zu zögern, rannte Aelia los und verlangsamte ihre Schritte erst, als sie das Ende des Tunnels sah.

In sicherer Annahme, dass ihre Schatten das Mädchen längst gefangen hatten, folgte ihnen die Wirklichkeit in die Tunnel. »Wo ist das Mädchen?«, brüllte sie, als sie diese nicht entdecken konnte. Stattdessen umkreisten die Schatten sie. »Was wollt ihr Nichtsnutze?«, stieß sie gereizt aus. Sie wollten ihr etwas Ungewöhnliches zeigen. Die Wirklichkeit eilte zügig voran und blieb abrupt stehen. Wo einst ein Schatten gewesen war, sah sie nun fast einen Menschen. »Wie ist das möglich?«, zischte sie verärgert. Die Schatten wurden unruhiger. Das Mädchen hatte ihn berührt? Ihretwegen verwandelte er sich zurück? Die Wirklichkeit trat an den Mann heran. Im Wahn seines Schmerzes fasste er sich an graue Brust und schrie gequält auf. »Bitte, mach das es aufhört …«, flehte er weinerlich. Die Wirklichkeit genoss diesen Anblick wie keinen anderen. Sie beugte sich herunter, ihr Haar glich einem schwarzen, flimmernden Schleier, der den Himmel zur späten Stunde vollständig überzog. »Wie fühlt es sich an Haaris, von der eigenen Phantasie in den Wahnsinn getrieben zu werden?«, zischelte sie ihm zu. Leider war er nicht Herr seiner Sinne. Zu tief steckte er in den Empfindungen seines Schmerzes. »Bitte, bitte, bitteeee …«, winselte er. Die Wirklichkeit grinste genüsslich. »Ich werde dich von deinem Leid erlösen. Schließlich bist du mein bester Mann«, sprach sie eigennützig, denn überzeuge dich selbst wie diese Erlösung aussah: Sie beugte sich tief über ihm und hauchte ihren Atem in seinen weit geöffneten Mund, da er noch immer schrie. Sie flößte ihm schwarzem Schleim ein und entlud es so lange bis es ihm überall herausquoll. »Und du hattest recht: Ich habe es schon immer genossen Energie zu stehlen«, meinte sie aufbrausend und gab ihm den letzten Rest. Nun war das Mädchen dran.

© Özlem Akdeniz 2023-09-13

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Dunkel, Emotional, Traurig
Hashtags